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Document 62006CJ0251

Urteil des Gerichtshofes (Vierte Kammer) vom 8. November 2007.
Firma ING. AUER - Die Bausoftware GmbH gegen Finanzamt Freistadt Rohrbach Urfahr.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Unabhängiger Finanzsenat, Außenstelle Linz - Österreich.
Indirekte Steuern - Ansammlung von Kapital - Verlegung des Sitzes einer Gesellschaft - Abschaffung der von einer Gesellschaft erhobenen Gesellschaftsteuer.
Rechtssache C-251/06.

European Court Reports 2007 I-09689

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2007:658

Rechtssache C‑251/06

Firma ING. AUER – Die Bausoftware GmbH

gegen

Finanzamt Freistadt Rohrbach Urfahr

(Vorabentscheidungsersuchen des

Unabhängigen Finanzsenats, Außenstelle Linz)

„Indirekte Steuern – Ansammlung von Kapital – Verlegung des Sitzes einer Gesellschaft – Abschaffung der von einer Gesellschaft erhobenen Gesellschaftsteuer“

Schlussanträge des Generalanwalts M. Poiares Maduro vom 21. Juni 2007 

Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 8. November 2007 

Leitsätze des Urteils

Steuerliche Vorschriften – Harmonisierung der Rechtsvorschriften – Indirekte Steuern auf die Ansammlung von Kapital – Bei Kapitalgesellschaften erhobene Gesellschaftsteuer

(Richtlinie 69/335 des Rates, Art. 3 Abs. 1 Buchst. a, Art. 4 Abs. 1 Buchst. g sowie Abs. 3 Buchst. b und Art. 7 Abs. 2)

Art. 4 Abs. 1 Buchst. g und Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 69/335 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital in der durch die Richtlinie 85/303 und die Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass der Verzicht eines Mitgliedstaats auf die Erhebung der Gesellschaftsteuer nicht daran hindert, eine Gesellschaft, die zu einer der in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie genannten Kategorien gehört, bei der Verlegung des Ortes ihrer tatsächlichen Geschäftsleitung von diesem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat, in dem diese Steuer noch erhoben wird, für die Erhebung der Gesellschaftsteuer im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie als Kapitalgesellschaft zu qualifizieren.

Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 69/335 legt nämlich zwingend und für alle Mitgliedstaaten einheitlich fest, welche Gesellschaften als Kapitalgesellschaften im Sinne dieser Richtlinie gelten. Wenn eine Gesellschaft eine der in Art. 3 Abs. 1 genannten Rechtsformen aufweist, ist sie demnach als Kapitalgesellschaft im Sinne der Richtlinie 69/335 anzusehen und kann somit bei der Verlegung des Ortes ihrer tatsächlichen Geschäftsleitung von einem Mitgliedstaat in einen anderen nicht mit der Begründung mit Gesellschaftsteuer belegt werden, dass sie im Herkunftsmitgliedstaat nicht als Kapitalgesellschaft angesehen werde. Dass ein Mitgliedstaat von der in Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie vorgesehenen Befugnis Gebrauch gemacht und die Gesellschaftsteuer abgeschafft hat, impliziert daher nicht, dass bei der Verlegung des Ortes der tatsächlichen Geschäftsleitung einer Kapitalgesellschaft von diesem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat dieser andere Mitgliedstaat automatisch auf diesen Vorgang Gesellschaftsteuer erheben könnte.

Diese Auslegung darf jedoch nicht dazu führen, dass Verhaltensweisen begünstigt werden, die durch die Errichtung künstlicher Konstruktionen mit dem alleinigen Ziel der Erlangung eines Steuervorteils gekennzeichnet sind. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die Umstände des Ausgangsverfahrens objektive Merkmale einer solchen missbräuchlichen Praxis aufweisen.

(vgl. Randnrn. 21, 28-29, 35, 45-47 und Tenor)







URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

8. November 2007(*)

„Indirekte Steuern – Ansammlung von Kapital – Verlegung des Sitzes einer Gesellschaft – Abschaffung der von einer Gesellschaft erhobenen Gesellschaftsteuer“

In der Rechtssache C‑251/06

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Unabhängigen Finanzsenat, Außenstelle Linz (Österreich), mit Entscheidung vom 31. Mai 2006, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Juni 2006, in dem Verfahren

Firma ING. AUER – Die Bausoftware GmbH

gegen

Finanzamt Freistadt Rohrbach Urfahr

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts, des Richters G. Arestis, der Richterin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter E. Juhász und T. von Danwitz,

Generalanwalt: M. Poiares Maduro,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 29. März 2007,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–       der Firma ING. AUER – Die Bausoftware GmbH, vertreten durch J. Wiedlroither und G. Aigner, Rechtsanwälte,

–       der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer sowie G. Glega und J. Bauer als Bevollmächtigte,

–       der hellenischen Regierung, vertreten durch I. Pouli und M. Tassopoulou als Bevollmächtigte,

–       der spanischen Regierung, vertreten durch M. Muñoz Pérez als Bevollmächtigten,

–       der polnischen Regierung, vertreten durch E. Ośniecka-Tamecka als Bevollmächtigte,

–       der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch M. Afonso und W. Mölls als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. Juni 2007

folgendes

Urteil

1       Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 Buchst. g und 3 Buchst. b sowie Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 69/335/EWG des Rates vom 17. Juli 1969 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital (ABl. L 249, S. 25) in der durch die Richtlinie 85/303/EWG des Rates vom 10. Juni 1985 (ABl. L 156, S. 23) und die Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 1994, C 241, S. 21, und ABl. 1995, L 1, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 69/335).

2       Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Firma ING. AUER – Die Bausoftware GmbH (im Folgenden: ING. AUER – Die Bausoftware) und dem Finanzamt Freistadt Rohrbach Urfahr wegen einer Gesellschaftsteuerforderung des Finanzamts in Höhe von 104 680,20 Euro.

 Rechtlicher Rahmen

 Gemeinschaftsrecht

3       Art. 2 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 69/335 sieht vor:

„(1)      Die der Gesellschaftsteuer unterliegenden Vorgänge werden ausschließlich in dem Mitgliedstaat besteuert, in dem sich der Ort der tatsächlichen Geschäftsleitung der Kapitalgesellschaft in dem Zeitpunkt befindet, in dem diese Vorgänge erfolgen.

(2)      Befinden sich der Ort der tatsächlichen Geschäftsleitung einer Kapitalgesellschaft in einem Drittland und ihr satzungsmäßiger Sitz in einem Mitgliedstaat, so werden die der Gesellschaftsteuer unterliegenden Vorgänge in dem Mitgliedstaat besteuert, in dem sich der satzungsmäßige Sitz befindet.“

4       Art. 3 der Richtlinie 69/335 bestimmt:

„(1)      Kapitalgesellschaften im Sinne dieser Richtlinie sind:

a)       die Gesellschaften belgischen, dänischen, deutschen, spanischen, französischen, griechischen, irischen, italienischen, luxemburgischen, niederländischen und portugiesischen Rechts sowie des Rechts des Vereinigten Königreichs, die nachstehend aufgeführt sind:

–       société de personnes à responsabilité limitée/personenvennootschap met beperkte aansprakelijkheid, Gesellschaft mit beschränkter Haftung, sociedad de responsabilidad limitada, société à responsabilité limitée, Εταιρία Περιωρισμένης Ευθύνης, società a responsabilità limitata, société à responsabilité limitée, sociedade por quotas;

         Gesellschaften österreichischen Rechts mit der Bezeichnung:

–       ‚Aktiengesellschaft‘,

–       ‚Gesellschaft mit beschränkter Haftung‘;

(2)      Zur Anwendung dieser Richtlinie werden den Kapitalgesellschaften alle anderen Gesellschaften, Personenvereinigungen oder juristischen Personen gleichgestellt, die einen Erwerbszweck verfolgen. Ein Mitgliedstaat kann jedoch davon absehen, sie für die Erhebung der Gesellschaftsteuer als Kapitalgesellschaft zu betrachten.“

5       In Art. 4 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 69/335 heißt es:

„(1)      Der Gesellschaftsteuer unterliegen die nachstehenden Vorgänge:

a)      die Gründung einer Kapitalgesellschaft;

c)      die Erhöhung des Kapitals einer Kapitalgesellschaft durch Einlagen jeder Art;

g)      die Verlegung des Ortes der tatsächlichen Geschäftsleitung einer Gesellschaft, Personenvereinigung oder juristischen Person von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat, wenn sie für die Erhebung der Gesellschaftsteuer in letzterem als Kapitalgesellschaft, im anderen Mitgliedstaat hingegen nicht als Kapitalgesellschaft angesehen wird;

(3)      Als Gründung im Sinne des Absatzes 1 Buchstabe a) gelten nicht Änderungen gleich welcher Art des Gesellschaftsvertrags oder der Satzung einer Kapitalgesellschaft und insbesondere nicht:

b)      die Verlegung des Ortes der tatsächlichen Geschäftsleitung oder des satzungsmäßigen Sitzes einer Gesellschaft, Personenvereinigung oder juristischen Person von einem Mitgliedstaat in einen anderen, wenn diese für die Erhebung der Gesellschaftsteuer in beiden Mitgliedstaaten als Kapitalgesellschaft angesehen wird;

…“

6       Art. 7 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 69/335 sieht vor:

„(1)      Mit Ausnahme der in Artikel 9 genannten Vorgänge befreien die Mitgliedstaaten von der Gesellschaftssteuer die Vorgänge, die am 1. Juli 1984 steuerfrei waren oder einem Gesellschaftssteuersatz von 0,50 v. H. oder weniger unterlagen.

(2)      Die Mitgliedstaaten können entweder alle anderen als die in Absatz 1 bezeichneten Vorgänge von der Gesellschaftssteuer befreien oder darauf die Steuer mit einem einheitlichen Satz von höchstens 1 v. H. erheben.“

 Nationales Recht

 Österreichisches Recht

7       Rechtsgrundlage für die Erhebung von Gesellschaftsteuer in Österreich ist Teil I des Kapitalverkehrsteuergesetzes vom 16. Oktober 1934 (deutsches RGBl. 1934 I S. 1058) in der Fassung des Gesetzes vom 12. Jänner 1999 (BGBl. I Nr. 28/1999) (im Folgenden: KVG).

8       In § 2 KVG heißt es:

„Der Gesellschaftsteuer unterliegen

5.      die Verlegung der Geschäftsleitung oder des satzungsmäßigen Sitzes einer ausländischen Kapitalgesellschaft in das Inland, wenn die Kapitalgesellschaft durch diese Verlegung zu einer inländischen wird. Dies gilt nicht, wenn die Kapitalgesellschaft vor der Verlegung der Geschäftsleitung oder des satzungsmäßigen Sitzes in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union für die Erhebung der Gesellschaftsteuer als Kapitalgesellschaft angesehen wurde;

…“

9       § 4 Abs. 1 und 2 KVG listet die Gesellschaften auf, die Kapitalgesellschaften sind oder für die Erhebung der Gesellschaftsteuer als solche gelten. Kapitalgesellschaften sind nach § 4 Abs. 1 Z 2 KVG u. a. Gesellschaften mit beschränkter Haftung.

 Deutsches Recht

10     Mit Art. 4 Abs. 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Verbesserung der Rahmenbedingungen der Finanzmärkte (Finanzmarktförderungsgesetz) vom 22. Februar 1990 (BGBl. 1990 I S. 266) wurde das Kapitalverkehrsteuergesetz vom 17. November 1972 (BGBl. 1972 I S. 2130) aufgehoben und damit die Gesellschaftsteuer mit Wirkung zum 1. Januar 1992 abgeschafft.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

11     Am 9. September 1999 wurde eine Gesellschaft, für die am 28. Juli 1999 die Erklärung über die Errichtung erfolgt war, unter der Firma „Bausoftware GmbH“ (im Folgenden: Bausoftware) ins Firmenbuch der Republik Österreich eingetragen. Alleinige Gesellschafterin war die Nemetschek AG (im Folgenden: Nemetschek), eine Gesellschaft deutschen Rechts. Der Ort der tatsächlichen Geschäftsleitung von Bausoftware war in Deutschland.

12     Am 16. September 1999 leistete Nemetschek an Bausoftware einen Zuschuss in Höhe von 102 Millionen ATS. Mit Einbringungsvertrag vom 22. September 1999 wurde der Betrieb des nicht protokollierten Einzelunternehmens „ING. Auer ‚Die Bausoftware‘“ mit Standort in Mondsee (Republik Österreich) in Bausoftware eingebracht.

13     Diese Einbringung wurde in der Generalversammlung von Bausoftware vom selben Tag genehmigt.

14     In dieser Versammlung wurde Herr Auer, der in Österreich wohnhaft war, zum weiteren Geschäftsführer von Bausoftware bestellt, und ihm wurde ein Sonderrecht auf Geschäftsführung eingeräumt. Schließlich wurde die Gesellschaft in ING. AUER – Die Bausoftware umbenannt.

15     Nach einer bei dieser Gesellschaft durchgeführten Betriebsprüfung schrieb das Finanzamt Freistadt Rohrbach Urfahr ihr aufgrund der Verlegung des Ortes der tatsächlichen Geschäftsführung von Deutschland nach Österreich mit Bescheid vom 6. Juni 2005 gemäß den Bestimmungen des KVG Gesellschaftsteuer in Höhe von 104 680,20 Euro vor, was 1 % des Wertes der Gesellschaftsrechte entspricht.

16     Der mit der Berufung von ING. AUER – Die Bausoftware gegen diesen Bescheid befasste Unabhängige Finanzsenat, Außenstelle Linz, hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.       Wenn der Ort der tatsächlichen Geschäftsleitung einer Gesellschaft, Personenvereinigung oder juristischen Person von einem Mitgliedstaat, der vor deren Gründung die Gesellschaftsteuer abgeschafft hat, in einen anderen Mitgliedstaat, der die Gesellschaftsteuer zu diesem Zeitpunkt erhebt, verlegt wird, steht dann der Qualifikation dieser Gesellschaft, Personenvereinigung oder juristischen Person als Kapitalgesellschaft „für die Erhebung der Gesellschaftsteuer“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Buchst. g und Art. 4 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 69/335/EWG entgegen, dass der erstere Mitgliedstaat auf die Erhebung von Gesellschaftsteuer durch Aufhebung der entsprechenden nationalen Rechtsgrundlage verzichtet hat?

2.       Verbietet Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 69/335 dem Mitgliedstaat, in den eine Kapitalgesellschaft den Ort der tatsächlichen Geschäftsleitung verlegt, anlässlich der Verlegung des Ortes der tatsächlichen Geschäftsleitung die Erhebung der Gesellschaftsteuer auf die in Art. 4 Abs. 1 Buchst. a und g der Richtlinie 69/335 beschriebenen Vorgänge, wenn die Vorgänge während der Zeit stattgefunden haben, in der die Kapitalgesellschaft ihren Ort der tatsächlichen Geschäftsleitung in einem Mitgliedstaat hatte, der vor Gründung der Kapitalgesellschaft auf die Erhebung von Gesellschaftsteuer durch Aufhebung der entsprechenden nationalen Rechtsgrundlage verzichtet hat?

 Zu den Vorlagefragen

17     Mit seinen Vorlagefragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Verzicht eines Mitgliedstaats auf die Erhebung der Gesellschaftsteuer daran hindert, eine Gesellschaft bei der Verlegung des Ortes ihrer tatsächlichen Geschäftsleitung von diesem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat, in dem diese Steuer noch erhoben wird, „für die Erhebung der Gesellschaftsteuer“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 69/335 als Kapitalgesellschaft zu qualifizieren.

18     Einleitend ist festzustellen, dass die Frage, ob die Eintragung von Bausoftware ins Firmenbuch der Republik Österreich am 9. September 1999 und der Zuschuss von 102 Millionen ATS, den Nemetschek ihr am 16. September 1999 zukommen ließ, als Gründung einer Kapitalgesellschaft oder als Erhöhung des Kapitals einer Kapitalgesellschaft qualifiziert werden können und als solche nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. a oder c der Richtlinie 69/335 der Gesellschaftsteuer unterliegen, nicht Gegenstand der Prüfung durch den Gerichtshof ist.

19     Außerdem fällt nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen des Verfahrens nach Art. 234 EG, das auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, jede Beurteilung des Sachverhalts der Rechtssache in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts (Urteile vom 15. November 1979, Denkavit Futtermittel, 36/79, Slg. 1979, 3439, Randnr. 12, und vom 15. Mai 2003, RAR, C‑282/00, Slg. 2003, I‑4741, Randnr. 46). Somit beruht die Prüfung durch den Gerichtshof auf der Feststellung des vorlegenden Gerichts, dass der Sachverhalt, der in den Randnrn. 11 bis 14 des vorliegenden Urteils dargelegt ist, eine Verlegung des Ortes der tatsächlichen Geschäftsleitung von einem Mitgliedstaat in einen anderen darstellt.

20     Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Gesellschaft, um die es im Ausgangsverfahren geht, eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung österreichischen Rechts ist.

21     Aus Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 69/335, der in Randnr. 4 des vorliegenden Urteils wiedergegeben wird, geht hervor, dass diese Bestimmung zwingend und für alle Mitgliedstaaten einheitlich festlegt, welche Gesellschaften Kapitalgesellschaften im Sinne dieser Richtlinie sind.

22     Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 69/335 legt fest, welche Vorgänge der Gesellschaftsteuer unterliegen.

23     In Bezug auf die Verlegung des Ortes der tatsächlichen Geschäftsleitung bestimmt Art. 4 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 69/335, dass u. a. „die Verlegung des Ortes der tatsächlichen Geschäftsleitung einer Gesellschaft, Personenvereinigung oder juristischen Person von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat, wenn sie für die Erhebung der Gesellschaftsteuer in letzterem als Kapitalgesellschaft, im anderen Mitgliedstaat hingegen nicht als Kapitalgesellschaft angesehen wird“, der Gesellschaftsteuer unterliegt.

24     Art. 4 Abs. 3 Buchst. b dieser Richtlinie sieht hingegen vor, dass „die Verlegung des Ortes der tatsächlichen Geschäftsleitung oder des satzungsmäßigen Sitzes einer Gesellschaft, Personenvereinigung oder juristischen Person von einem Mitgliedstaat in einen anderen, wenn diese für die Erhebung der Gesellschaftsteuer in beiden Mitgliedstaaten als Kapitalgesellschaft angesehen wird“, nicht als Gründung einer Kapitalgesellschaft im Sinne des Abs. 1 Buchst. a desselben Artikels gilt.

25     Auf einen Vorgang dieser Art darf demzufolge im Bestimmungsstaat nur dann Gesellschaftsteuer erhoben werden, wenn die betreffende Gesellschaft im Herkunftsstaat für die Erhebung dieser Steuer nicht als Kapitalgesellschaft angesehen wird.

26     Die Mitgliedstaaten, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, machen geltend, dass eine Gesellschaft, von der im Herkunftsmitgliedstaat keine Gesellschaftsteuer erhoben worden sei, da dieser sie abgeschafft habe, in diesem Staat für die Erhebung der Gesellschaftsteuer nicht als Kapitalgesellschaft angesehen werde, so dass die in Art. 4 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 69/335 aufgestellten Voraussetzungen erfüllt seien.

27     Dieser Analyse kann jedoch nicht gefolgt werden, da sonst der Qualifizierung als Kapitalgesellschaft nach innerstaatlichem Recht der Vorrang gegenüber derjenigen gegeben würde, die aus der Richtlinie 69/335 folgt.

28     Wie in Randnr. 21 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, legt nämlich Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 69/335 zwingend und für alle Mitgliedstaaten einheitlich fest, welche Gesellschaften als Kapitalgesellschaften im Sinne dieser Richtlinie gelten.

29     Wenn eine Gesellschaft eine der in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 69/335 genannten Rechtsformen aufweist, ist sie demnach als Kapitalgesellschaft im Sinne dieser Richtlinie anzusehen und kann somit bei der Verlegung des Ortes ihrer tatsächlichen Geschäftsleitung von einem Mitgliedstaat in einen anderen nicht mit der Begründung mit Gesellschaftsteuer belegt werden, dass sie im Herkunftsmitgliedstaat nicht als Kapitalgesellschaft angesehen werde.

30     Hingegen ist eine solche unterschiedliche Qualifizierung, die zur Anwendbarkeit von Art. 4 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 69/335 führt, dann möglich, wenn es sich um Gesellschaften nach Art. 3 Abs. 2 dieser Richtlinie handelt.

31     Dieser Artikel, der vorschreibt, dass „[z]ur Anwendung dieser Richtlinie … den Kapitalgesellschaften alle anderen Gesellschaften, Personenvereinigungen oder juristischen Personen gleichgestellt [werden], die einen Erwerbszweck verfolgen“, lässt dabei nämlich zu, dass die Mitgliedstaaten nichtsdestoweniger davon absehen, derart gleichgestellte Gesellschaften, Personenvereinigungen oder juristische Personen für die Erhebung der Gesellschaftsteuer als Kapitalgesellschaften zu betrachten.

32     Dieser den Mitgliedstaaten eingeräumte Beurteilungsspielraum, der bei den in Abs. 1 desselben Artikels genannten Gesellschaften nicht besteht, kann somit dazu führen, dass eine bestimmte Einheit in einem Mitgliedstaat als Kapitalgesellschaft qualifiziert wird, in einem anderen Mitgliedstaat aber nicht. Im Fall einer solchen unterschiedlichen Qualifizierung fiele die Verlegung des Ortes der tatsächlichen Geschäftsleitung einer entsprechenden Einheit in den Anwendungsbereich des Art. 4 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 69/335.

33     Überdies hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass es den Bestimmungen der Richtlinie 69/335 zuwiderläuft, wenn dem Kriterium der Besteuerung im Herkunftsmitgliedstaat der Vorrang gegenüber dem in Art. 4 Abs. 1 Buchst. g dieser Richtlinie vorgesehenen Kriterium der Qualifizierung als Kapitalgesellschaft eingeräumt wird, da dies eine Besteuerung mit Gesellschaftsteuer in Fällen ermöglichen würde, in denen dies nach der Richtlinie nicht vorgesehen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juni 2007, Kommission/Griechenland, C‑178/05, Slg. 2007, I‑0000, Randnrn. 26 bis 30).

34     Außerdem ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass, auch wenn die Mitgliedstaaten gemäß Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 69/335 Kapitalzuführungen an Gesellschaften von der Gesellschaftsteuer befreien können, diese Befreiung nicht zur Folge haben kann, dass es einem anderen Mitgliedstaat ermöglicht wird, diese Kapitalzuführungen zu besteuern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Januar 2006, Senior Engineering Investments, C‑494/03, Slg. 2006, I‑525, Randnr. 43).

35     Dass ein Mitgliedstaat von der in Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 69/335 vorgesehenen Befugnis Gebrauch gemacht und die Gesellschaftsteuer abgeschafft hat, impliziert daher nicht, dass bei der Verlegung des Ortes der tatsächlichen Geschäftsleitung einer Kapitalgesellschaft von diesem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat dieser andere Mitgliedstaat automatisch auf diesen Vorgang Gesellschaftsteuer erheben könnte.

36     Nach alledem ist Art. 4 Abs. 1 Buchst. g und 3 Buchst. b der Richtlinie 69/335 dahin auszulegen, dass der Verzicht eines Mitgliedstaats auf die Erhebung der Gesellschaftsteuer nicht daran hindert, eine Gesellschaft, die zu einer der in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie genannten Kategorien gehört, bei der Verlegung des Ortes ihrer tatsächlichen Geschäftsleitung von diesem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat, in dem diese Steuer noch erhoben wird, für die Erhebung der Gesellschaftsteuer im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie als Kapitalgesellschaft zu qualifizieren.

37     Nach dieser Auslegung ist ergänzend darauf hinzuweisen, dass im Verfahren vor dem Gerichtshof die Frage einer eventuellen Steuerumgehung mittels einer missbräuchlichen Ausnutzung der Bestimmungen der so ausgelegten Richtlinie 69/335 aufgeworfen worden ist.

38     Auch wenn das vorlegende Gericht seine Fragen ihrer Form nach auf die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 Buchst. g und 3 Buchst. b sowie von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 69/335 beschränkt hat, hindert dies den Gerichtshof nicht daran, diesem Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu geben, die ihm bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei seiner Fragestellung darauf Bezug genommen hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Dezember 1990, SARPP, C‑241/89, Slg. 1990, I‑4695, Randnr. 8, vom 4. März 1999, Consorzio per la tutela del formaggio Gorgonzola, C‑87/97, Slg. 1999, I‑1301, Randnr. 16, und vom 26. April 2007, Alevizos, C‑392/05, Slg. 2007, I‑0000, Randnr. 64).

39     Somit ist zu prüfen, ob die in Randnr. 36 des vorliegenden Urteils vorgenommene Auslegung von Art. 4 Abs. 1 Buchst. g und 3 Buchst. b der Richtlinie 69/335 dazu beitragen kann, dass das Gemeinschaftsrecht missbräuchlich ausgenutzt wird, um nationale Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zu umgehen.

40     Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 69/335 keine Vorschrift enthält, mit der speziell der Gefahr der Steuerumgehung vorgebeugt werden soll.

41     Der Gerichtshof hat allerdings bereits entschieden, dass die Anwendung des Gemeinschaftsrechts nicht so weit gehen kann, dass missbräuchliche Praktiken von Wirtschaftsteilnehmern gedeckt würden, d. h. Handlungen, die nicht im Rahmen normaler Handelsgeschäfte, sondern nur zu dem Zweck getätigt werden, missbräuchlich in den Genuss von im Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Vorteilen zu gelangen (vgl. Urteil vom 21. Februar 2006, Halifax u. a., C‑255/02, Slg. 2006, I‑1609, Randnr. 69).

42     Der vom Gemeinschaftsrecht gebotene Schutz erstreckt sich somit nicht auf Situationen, in denen ein Rechtssubjekt, sei es eine natürliche oder eine juristische Person, sich nur deshalb – missbräuchlich oder betrügerisch – auf gemeinschaftsrechtliche Normen berufen möchte, um sich der Geltung der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats zu entziehen.

43     Zwar reicht der Umstand, dass eine Gesellschaft in einem bestimmten Mitgliedstaat mit dem Ziel gegründet wurde, in den Genuss günstigerer Rechtsvorschriften zu kommen, als solcher nicht aus, um auf das Bestehen einer missbräuchlichen Ausnutzung des Gemeinschaftsrechts zu schließen.

44     Doch fällt die Gründung einer Gesellschaft in einem Mitgliedstaat im Rahmen rein künstlicher, jeder wirtschaftlichen Realität barer Konstruktionen zu dem Zweck, die normalerweise zu zahlende Steuer zu umgehen, nicht mehr unter den Schutz, den die Richtlinie 69/335 den von ihr erfassten Gesellschaften bieten muss.

45     Daraus folgt, dass die in Randnr. 36 des vorliegenden Urteils vorgenommene Auslegung von Art. 4 Abs. 1 Buchst. g und 3 Buchst. b der Richtlinie 69/335 nicht zur Folge haben darf, dass Verhaltensweisen begünstigt werden, die durch die Errichtung künstlicher Konstruktionen mit dem alleinigen Ziel der Erlangung eines Steuervorteils gekennzeichnet sind.

46     Daher hat das vorlegende Gericht zu prüfen, ob die Umstände des Ausgangsverfahrens objektive Merkmale einer solchen missbräuchlichen Praxis aufweisen.

47     Unter diesen Umständen ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 Buchst. g und 3 Buchst. b der Richtlinie 69/335 dahin auszulegen ist, dass der Verzicht eines Mitgliedstaats auf die Erhebung der Gesellschaftsteuer nicht daran hindert, eine Gesellschaft, die zu einer der in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie genannten Kategorien gehört, bei der Verlegung des Ortes ihrer tatsächlichen Geschäftsleitung von diesem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat, in dem diese Steuer noch erhoben wird, für die Erhebung der Gesellschaftsteuer im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie als Kapitalgesellschaft zu qualifizieren. Diese Auslegung darf jedoch nicht dazu führen, dass Verhaltensweisen begünstigt werden, die durch die Errichtung künstlicher Konstruktionen mit dem alleinigen Ziel der Erlangung eines Steuervorteils gekennzeichnet sind. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die Umstände des Ausgangsverfahrens objektive Merkmale einer solchen missbräuchlichen Praxis aufweisen.

 Kosten

48     Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 4 Abs. 1 Buchst. g und 3 Buchst. b der Richtlinie 69/335/EWG des Rates vom 17. Juli 1969 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital in der durch die Richtlinie 85/303/EWG des Rates vom 10. Juni 1985 und die Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass der Verzicht eines Mitgliedstaats auf die Erhebung der Gesellschaftsteuer nicht daran hindert, eine Gesellschaft, die zu einer der in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie genannten Kategorien gehört, bei der Verlegung des Ortes ihrer tatsächlichen Geschäftsleitung von diesem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat, in dem diese Steuer noch erhoben wird, für die Erhebung der Gesellschaftsteuer im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie als Kapitalgesellschaft zu qualifizieren. Diese Auslegung darf jedoch nicht dazu führen, dass Verhaltensweisen begünstigt werden, die durch die Errichtung künstlicher Konstruktionen mit dem alleinigen Ziel der Erlangung eines Steuervorteils gekennzeichnet sind. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die Umstände des Ausgangsverfahrens objektive Merkmale einer solchen missbräuchlichen Praxis aufweisen.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Deutsch.

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