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Document 62015CJ0267

Urteil des Gerichtshofs (Zehnte Kammer) vom 22. Juni 2016.
Gemeente Woerden gegen Staatssecretaris van Financiën.
Vorabentscheidungsersuchen des Hoge Raad der Nederlanden.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Vorsteuer – Abzug.
Rechtssache C-267/15.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2016:466

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)

22. Juni 2016 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Mehrwertsteuer — Vorsteuer — Abzug“

In der Rechtssache C‑267/15

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) mit Entscheidung vom 29. Mai 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Juni 2015, in dem Verfahren

Gemeente Woerden

gegen

Staatssecretaris van Financiën

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen, des Richters A. Borg Barthet (Berichterstatter) und der Richterin M. Berger,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Gemeente Woerden, vertreten durch R. Brouwer, belastingadviseur,

der niederländischen Regierung, vertreten durch J. Langer, M. Bulterman und M. Gijzen als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Kranenborg und L. Lozano Palacios als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Gemeente Woerden (Gemeinde Woerden, Niederlande) und dem Staatssecretaris van Financiën (Staatssekretär für Finanzen, Niederlande) wegen eines Bescheids über die Nacherhebung von Mehrwertsteuer für den Zeitraum vom 1. Januar 2005 bis zum 30. November 2008.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:

a)

Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt“.

4

Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.

Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.“

5

Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Nach Konsultation des Beratenden Ausschusses für die Mehrwertsteuer … kann jeder Mitgliedstaat in seinem Gebiet ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen behandeln.

…“

6

Art. 13 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Staaten, Länder, Gemeinden und sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelten nicht als Steuerpflichtige, soweit sie die Tätigkeiten ausüben oder Umsätze bewirken, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, auch wenn sie im Zusammenhang mit diesen Tätigkeiten oder Umsätzen Zölle, Gebühren, Beiträge oder sonstige Abgaben erheben.

Falls sie jedoch solche Tätigkeiten ausüben oder Leistungen erbringen, gelten sie für diese Tätigkeiten oder Leistungen als Steuerpflichtige, sofern eine Behandlung als Nicht-Steuerpflichtige zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde.

Die Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelten in Bezug auf die in Anhang I genannten Tätigkeiten in jedem Fall als Steuerpflichtige, sofern der Umfang dieser Tätigkeiten nicht unbedeutend ist.“

7

Art. 72 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie gilt als ‚Normalwert‘ der gesamte Betrag, den ein Empfänger einer Lieferung oder ein Dienstleistungsempfänger auf derselben Absatzstufe, auf der die Lieferung der Gegenstände oder die Dienstleistung erfolgt, an einen selbständigen Lieferer oder Dienstleistungserbringer in dem Mitgliedstaat, in dem der Umsatz steuerpflichtig ist, zahlen müsste, um die betreffenden Gegenstände oder Dienstleistungen zu diesem Zeitpunkt unter den Bedingungen des freien Wettbewerbs zu erhalten.

Kann keine vergleichbare Lieferung von Gegenständen oder Erbringung von Dienstleistungen ermittelt werden, ist der Normalwert wie folgt zu bestimmen:

(1)

bei Gegenständen, ein Betrag nicht unter dem Einkaufspreis der Gegenstände oder gleichartiger Gegenstände oder mangels eines Einkaufspreises nicht unter dem Selbstkostenpreis, und zwar jeweils zu den Preisen, die zum Zeitpunkt der Bewirkung dieser Umsätze festgestellt werden;

(2)

bei Dienstleistungen, ein Betrag nicht unter dem Betrag der Ausgaben des Steuerpflichtigen für die Erbringung der Dienstleistung.“

8

Art. 80 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„(1)   Zur Vorbeugung gegen Steuerhinterziehung oder ‑umgehung können die Mitgliedstaaten in jedem der folgenden Fälle Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, dass die Steuerbemessungsgrundlage für die Lieferungen von Gegenständen oder für Dienstleistungen an Empfänger, zu denen familiäre oder andere enge persönliche Bindungen, Bindungen aufgrund von Leitungsfunktionen oder Mitgliedschaften sowie eigentumsrechtliche, finanzielle oder rechtliche Bindungen, gemäß der Definition des Mitgliedstaats, bestehen, der Normalwert ist:

a)

sofern die Gegenleistung niedriger als der Normalwert ist und der Erwerber oder Dienstleistungsempfänger nicht zum vollen Vorsteuerabzug gemäß den Artikeln 167 bis 171 sowie 173 bis 177 berechtigt ist;

Für die Zwecke des Unterabsatzes 1 kann als rechtliche Bindung auch die Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, der Familie des Arbeitnehmers oder anderen diesem nahe stehenden Personen gelten.

(2)   Machen die Mitgliedstaaten von der in Absatz 1 vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch, können sie festlegen, für welche Kategorien von Lieferern und Dienstleistungserbringern sowie von Erwerbern oder Dienstleistungsempfängern sie von diesen Maßnahmen Gebrauch machen.

…“

9

Art. 168 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

a)

die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;

b)

die Mehrwertsteuer, die für Umsätze geschuldet wird, die der Lieferung von Gegenständen beziehungsweise dem Erbringen von Dienstleistungen gemäß Artikel 18 Buchstabe a sowie Artikel 27 gleichgestellt sind;

c)

die Mehrwertsteuer, die für den innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen gemäß Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer i geschuldet wird;

d)

die Mehrwertsteuer, die für dem innergemeinschaftlichen Erwerb gleichgestellte Umsätze gemäß den Artikeln 21 und 22 geschuldet wird;

e)

die Mehrwertsteuer, die für die Einfuhr von Gegenständen in diesem Mitgliedstaat geschuldet wird oder entrichtet worden ist.“

Niederländisches Recht

10

Art. 3 der Wet op de omzetbelasting (Umsatzsteuergesetz) vom 28. Juni 1968 (Stb. 1968, Nr. 329) in ihrer auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Umsatzsteuergesetz) lautet:

„(1)   Als Lieferungen von Gegenständen gelten:

a)

die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen Gegenstand zu verfügen;

(3)   Einer Lieferung gegen Entgelt im Sinne von Art. 1 Buchst. a gleichgestellt sind:

b)

die Zuordnung von im eigenen Betrieb des Unternehmers hergestellten Gegenständen für die Zwecke seines Unternehmens in den Fällen, in denen ihn der Erwerb der Gegenstände bei einem anderen Unternehmer nicht zum vollständigen Abzug der auf diesen Gegenständen lastenden Steuer berechtigen würde;

…“

11

Art. 7 des Umsatzsteuergesetzes bestimmt:

„(1)   Unternehmer ist, wer selbständig eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt.

(4)   Natürliche Personen und Körperschaften im Sinne der Algemene wet inzake rijksbelastingen [(Allgemeines Gesetz über die Staatssteuern)], die nach diesem Artikel Unternehmer sind, die in den Niederlanden wohnhaft oder ansässig sind oder dort über eine feste Niederlassung verfügen und die in finanzieller, organisatorischer und wirtschaftlicher Hinsicht so miteinander verbunden sind, dass sie eine Einheit bilden, werden auf Antrag einer oder mehrerer dieser natürlichen Personen oder Körperschaften oder auch ohne Antrag durch rechtsmittelfähigen Bescheid des Inspecteur von dem ersten Tag des Monats an, der auf den Monat folgt, in dem der Inspecteur den Bescheid erlassen hat, als ein Unternehmer angesehen. Durch Ministerialverordnung können nähere Vorschriften zur Bildung, Änderung und Auflösung der steuerlichen Einheit erlassen werden.

…“

12

Nach Art. 8 des Umsatzsteuergesetzes gilt:

„(1)   Die Steuer wird nach Maßgabe des Entgelts berechnet.

(2)   Das Entgelt ist der Gesamtbetrag – oder, soweit die Gegenleistung nicht in einem Geldbetrag besteht, der Gesamtwert der Gegenleistung –, der für die Lieferung oder die Dienstleistung ohne Umsatzsteuer in Rechnung gestellt wird. Ist der im Rahmen der Lieferung oder der Dienstleistung gezahlte Betrag höher als der in Rechnung gestellte Betrag, so ist der tatsächlich entrichtete Betrag zu berücksichtigen.

(3)   Bei den in Art. 3 Abs. 3 und in Art. 3a Abs. 1 genannten Umsätzen wird das Entgelt auf der Grundlage des Einkaufspreises der Gegenstände oder gleichartiger Gegenstände oder, in Ermangelung eines Einkaufspreises, auf der Grundlage des zum Zeitpunkt der Bewirkung der Umsätze festgestellten Selbstkostenpreises bestimmt.

(4)   In Bezug auf die in Art. 4 Abs. 3 genannten Umsätze wird das Entgelt auf der Grundlage des Normalwerts der Dienstleistung bestimmt. Normalwert ist der Betrag, der ohne Umsatzsteuer vom betreffenden Unternehmer zum Zeitpunkt der Erbringung der Dienstleistung unter marktüblichen Bedingungen in den Niederlanden an einen unabhängigen Dienstleister hätte gezahlt werden müssen.

…“

13

Art. 109 der Wet op het primair onderwijs (Gesetz über den Grundschulunterricht) vom 2. Juli 1981 (Stb. 1983, Nr. 727) in ihrer auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung lautet:

„Maßnahmen an Gebäuden oder Grundstücken in Zusammenhang mit der Vermietung nach den Art. 108 oder 110 durch die für eine nicht von der Gemeinde instand gehaltene Schule zuständige Behörde gehen nicht zulasten der Gemeinde.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

14

Die Gemeente Woerden erteilte einen Auftrag zum Bau zweier Gebäude zur multifunktionalen Nutzung. Sie zog die ihr in Bezug auf die Bauabnahme in Rechnung gestellte Umsatzsteuer nahezu vollständig als Vorsteuer ab.

15

Am 6. Februar 2007 wurde die Stichting Gebouwen Beheer Woerden (Stiftung für Gebäudeverwaltung Woerden, im Folgenden: Stiftung) gegründet. Die Leitung der Stiftung besteht aus fünf Mitgliedern, von denen eines von der Gemeente Woerden, drei von den Leitungen jeder der drei die Gebäude nutzenden Bildungseinrichtungen und eines von der Stichting Kindercentra Midden Nederland (Stiftung Kinderbetreuungszentren Mittelniederlande) benannt wurden. Stiftungszweck ist die Verwaltung von Gebäuden und die Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Nutzern der Gebäude.

16

Statt die fraglichen Gebäude zu vermieten, beschloss die Gemeente Woerden, sie an die Stiftung zu veräußern. Die beiden Gebäude, von denen das zweite in zwei Wohnungseigentumsrechte aufgespalten wurde, wurden für einen Betrag verkauft, der rund 10 % des Selbstkostenpreises entsprach. Die Mehrwertsteuer wurde anhand des Kaufpreises berechnet. Der von der Stiftung geschuldete Kaufpreis wurde in ein verzinsliches Darlehen umgewandelt.

17

Im Rahmen der Übertragung des Eigentums am ersten Gebäude wurde Grunderwerbsteuer in Höhe eines Betrags erhoben, der annähernd seinem Selbstkostenpreis entsprach. Für das zweite Gebäude geht aus der Übertragungsurkunde hervor, dass die Übertragung des ersten Wohnungseigentumsrechts dazu führt, dass Grunderwerbsteuer in Höhe eines Betrags anfällt, der annähernd dem Selbstkostenpreis des gesamten Gebäudes entspricht.

18

Die Stiftung überließ sodann einen Teil der fraglichen Gebäude drei Einrichtungen für Sondergrundschulunterricht zur unentgeltlichen Nutzung. Die anderen Gebäudeteile wurden gegen Entgelt an verschiedene Mieter vermietet. Diese Vermietung ist mit Ausnahme der Vermietung der Sportanlagen von der Mehrwertsteuer befreit.

19

Der Inspecteur vertrat die Auffassung, die Gemeente Woerden habe die beiden Gebäude nicht im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a des Umsatzsteuergesetzes an die Stiftung geliefert, sondern umsatzsteuerfrei an sie vermietet. Folglich schulde die Gemeente Woerden Umsatzsteuer gemäß Art. 3 Abs. 3 Buchst. b des Umsatzsteuergesetzes. Diese Steuer wurde vom Inspecteur durch Bescheid nacherhoben.

20

Am 25. April 2013 entschied der Gerechtshof te Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam, Niederlande, im Folgenden: Berufungsgericht) in dem von der Gemeente Woerden angestrengten Berufungsverfahren, dass in der Tat eine Lieferung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a des Umsatzsteuergesetzes vorliege.

21

Das Berufungsgericht war jedoch der Auffassung, dass der von der Gemeente Woerden in Rechnung gestellte Verkaufspreis ausschließlich diejenigen Teile der fraglichen Gebäude betreffe, die die Stiftung steuerpflichtig vermiete. Nur für diese Gebäudeteile sei die Gemeente Woerden als Unternehmerin im Sinne des Umsatzsteuergesetzes tätig geworden, und sie sei folglich nur für den entsprechenden Teil der ihr bei der Übergabe der Gebäude in Rechnung gestellten Umsatzsteuer, also in Höhe von rund 10 %, zum Vorsteuerabzug berechtigt.

22

Die Gemeente Woerden legte gegen diese Entscheidung des Berufungsgerichts Kassationsbeschwerde ein. Der Staatssecretaris van Financiën legte ein bedingtes Anschlussrechtsmittel ein.

23

Das vorlegende Gericht weist bei seiner Würdigung die vom Berufungsgericht vorgenommene Beurteilung zurück, wonach die Gemeente Woerden bestimmte Teile der fraglichen Gebäude als Unternehmerin und andere nicht als Unternehmerin geliefert habe.

24

Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass die Verkaufspreise der fraglichen Gebäude unmittelbar mit deren Lieferung verbunden seien und dass die Gemeente Woerden daher diese Lieferungen gegen Entgelt erbracht habe, so dass es sich um eine wirtschaftliche Tätigkeit handele.

25

Das vorlegende Gericht weist ferner die Rüge des Staatssecretaris van Financiën zurück, wonach die Gemeente Woerden bei den Lieferungen der fraglichen Gebäude nicht als Unternehmerin im Sinne des Umsatzsteuergesetzes, sondern als Trägerin öffentlicher Gewalt gehandelt habe.

26

Außerdem prüft das vorlegende Gericht, ob ein Rechtsmissbrauch vorliegt. Da die Verwaltung der und die Verantwortung für die Gebäude jedoch von der Stiftung übernommen worden sei, könne ein Rechtsmissbrauch hier ausgeschlossen werden.

27

Das vorlegende Gericht wirft gleichwohl von Amts wegen die Frage auf, ob die Gemeente Woerden nach der Mehrwertsteuerrichtlinie nur in Bezug auf einen Teil der bei der Übergabe der Gebäude in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer zum Vorsteuerabzug berechtigt ist, weil sie aufgrund des Gesetzes über den Grundschulunterricht vom 2. Juli 1981 in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung die Kosten für die Unterbringung der Schulen den schulischen Einrichtungen nicht in Rechnung stellen darf und weil die Stiftung schulischen Einrichtungen Teile der fraglichen Gebäude kostenlos zur Nutzung überlassen hat.

28

Unter diesen Umständen hat der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Hat ein Steuerpflichtiger in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem der Steuerpflichtige ein Gebäude errichten ließ und zu einem nicht kostendeckenden Preis verkaufte, während der Käufer des Gebäudes einen bestimmten Teil einem Dritten zur unentgeltlichen Nutzung überlässt, ein Recht auf Abzug der gesamten für den Bau des Gebäudes in Rechnung gestellten Umsatzsteuer als Vorsteuer oder nur eines den Gebäudeteilen, die der Käufer für wirtschaftliche Tätigkeiten nutzt (im vorliegenden Fall Vermietung gegen Entgelt), entsprechenden Teils der Umsatzsteuer?

Zur Vorlagefrage

29

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass ein Steuerpflichtiger unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, d. h., wenn er ein Gebäude errichten ließ und es zu einem unter den Baukosten liegenden Preis verkaufte, zum Abzug der gesamten für den Bau des Gebäudes entrichteten Mehrwertsteuer als Vorsteuer berechtigt ist oder nur zum Abzug eines den Gebäudeteilen, die der Erwerber für wirtschaftliche Tätigkeiten nutzt, entsprechenden Teils der Steuer.

30

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung das Recht der Steuerpflichtigen, von der von ihnen geschuldeten Mehrwertsteuer die Mehrwertsteuer abzuziehen, die für die von ihnen erworbenen Gegenstände und empfangenen Dienstleistungen als Vorsteuer geschuldet wird oder gezahlt wurde, ein fundamentaler Grundsatz des durch die Rechtsvorschriften der Europäischen Union geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist (vgl. Urteile vom 8. Januar 2002, Metropol und Stadler, C‑409/99, EU:C:2002:2, Rn. 42, sowie vom 6. September 2012, Tóth, C‑324/11, EU:C:2012:549, Rn. 23).

31

Hierzu ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass das in den Art. 167 ff. der Mehrwertsteuerrichtlinie geregelte Recht auf Vorsteuerabzug integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer ist und grundsätzlich nicht eingeschränkt werden kann. Insbesondere kann dieses Recht für die gesamte Steuerbelastung der vorausgehenden Umsatzstufen sofort ausgeübt werden (vgl. Urteile vom 21. März 2000, Gabalfrisa u. a., C‑110/98 bis C‑147/98, EU:C:2000:145, Rn. 43, vom 26. Mai 2005, Kretztechnik, C‑465/03, EU:C:2005:320, Rn. 33, vom 22. Dezember 2010, Dankowski, C‑438/09, EU:C:2010:818, Rn. 22, sowie vom 6. Dezember 2012, Bonik, C‑285/11, EU:C:2012:774, Rn. 26).

32

Durch die Regelung über den Vorsteuerabzug soll der Unternehmer vollständig von der im Rahmen aller seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet folglich völlige Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck oder ihrem Ergebnis, sofern diese Tätigkeiten selbst der Mehrwertsteuer unterliegen (Urteil vom 6. Dezember 2012, Bonik, C‑285/11, EU:C:2012:774, Rn. 27).

33

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs wird die Mehrwertsteuer auf jeden Produktions- oder Vertriebsvorgang erhoben, abzüglich der Steuer, mit der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet worden sind (Urteil vom 6. Dezember 2012, Bonik, C‑285/11, EU:C:2012:774, Rn. 28). Folglich ist in Bezug auf die Mehrwertsteuer jeder Umsatz unabhängig von der auf frühere oder spätere Umsätze geschuldeten Mehrwertsteuer gesondert zu bewerten.

34

Zu den für die Entstehung des Vorsteuerabzugsrechts erforderlichen materiellen Voraussetzungen hat der Gerichtshof entschieden, dass die zur Begründung dieses Rechts angeführten Gegenstände oder Dienstleistungen nach Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie vom Steuerpflichtigen auf einer nachfolgenden Umsatzstufe für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden müssen und dass diese Gegenstände oder Dienstleistungen auf einer vorausgehenden Umsatzstufe von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert oder erbracht worden sein müssen (Urteil vom 6. September 2012, Tóth, C‑324/11, EU:C:2012:549, Rn. 26).

35

Da Art. 168 der Mehrwertsteuerrichtlinie keine weitere Voraussetzung in Bezug auf die Nutzung durch den Empfänger der betreffenden Gegenstände oder Dienstleistungen aufstellt, ist ein Steuerpflichtiger, wenn die beiden in der vorstehenden Randnummer genannten Voraussetzungen erfüllt sind, grundsätzlich zum Abzug der entrichteten Vorsteuer berechtigt.

36

Dem ist hinzuzufügen, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie das Recht auf Vorsteuerabzug nicht von einer an die Nutzung der in Rede stehenden Gegenstände oder Dienstleistungen durch die Person, die sie vom Steuerpflichtigen erhält, anknüpfenden Bedingung abhängig macht, weil dies bedeuten würde, dass jeder Umsatz eines Steuerpflichtigen mit einem Erwerber oder Empfänger, der – wie Privatpersonen – keine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, das Recht des Steuerpflichtigen auf Vorsteuerabzug beschränkt.

37

Außerdem hätte eine Voraussetzung, wonach die Nutzung der fraglichen Gegenstände oder Dienstleistungen durch den Erwerber oder Empfänger für das Recht des Lieferanten auf Vorsteuerabzug entscheidend wäre, zur Folge, dass das Vorsteuerabzugsrecht des Steuerpflichtigen vom späteren Handeln des Erwerbers oder Empfängers abhinge, der stets berechtigt wäre, die Nutzung des Gegenstandes kurz- oder langfristig zu ändern.

38

Aus der Vorlageentscheidung geht aber hervor, dass die Gemeente Woerden als Steuerpflichtige im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie zu qualifizieren ist. Ferner geht aus ihr hervor, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Gebäude der Gemeente Woerden von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert wurden und dass sie diese Gebäude im Rahmen eines steuerpflichtigen Umsatzes, nämlich ihrer Lieferung gegen Entgelt an die Stiftung, genutzt hat.

39

Folglich ist die Gemeente Woerden berechtigt, die gesamte Vorsteuer abzuziehen, unabhängig von der Nutzung der von ihr gelieferten Gegenstände durch den Erwerber oder Empfänger.

40

In Bezug auf die Tatsache, dass der Steuerpflichtige im Ausgangsverfahren einen Gegenstand zu einem nicht kostendeckenden Preis geliefert hat, ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das mit einer wirtschaftlichen Tätigkeit erzielte Ergebnis im Hinblick auf das Abzugsrecht unerheblich ist, solange die Tätigkeit selbst der Mehrwertsteuer unterliegt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. Januar 2005, Hotel Scandic Gåsabäck, C‑412/03, EU:C:2005:47, Rn. 22, und vom 9. Juli 2011, Campsa Estaciones de Servicio, C‑285/10, EU:C:2011:381, Rn. 25).

41

Überdies kann nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Abzug, wenn der Preis der Lieferung unter dem Selbstkostenpreis liegt, nicht anteilig auf die Differenz zwischen diesen beiden Beträgen beschränkt werden, selbst wenn der Preis der Lieferung deutlich geringer als der Selbstkostenpreis ist, es sei denn, er wäre rein symbolisch (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. September 1988, Kommission/Frankreich, 50/87, EU:C:1988:429, Rn. 16).

42

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass ein Steuerpflichtiger unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, d. h., wenn er ein Gebäude errichten ließ und es zu einem unter den Baukosten liegenden Preis verkaufte, zum Abzug der gesamten für den Bau des Gebäudes entrichteten Mehrwertsteuer als Vorsteuer berechtigt ist und nicht nur zum Abzug eines den Gebäudeteilen, die der Erwerber für wirtschaftliche Tätigkeiten nutzt, entsprechenden Teils der Steuer. Dass der Erwerber einen Teil des betreffenden Gebäudes einem Dritten zur unentgeltlichen Nutzung überlässt, ist insoweit irrelevant.

Kosten

43

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:

 

Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass ein Steuerpflichtiger unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, d. h., wenn er ein Gebäude errichten ließ und es zu einem unter den Baukosten liegenden Preis verkaufte, zum Abzug der gesamten für den Bau des Gebäudes entrichteten Mehrwertsteuer als Vorsteuer berechtigt ist und nicht nur zum Abzug eines den Gebäudeteilen, die der Erwerber für wirtschaftliche Tätigkeiten nutzt, entsprechenden Teils der Steuer. Dass der Erwerber einen Teil des betreffenden Gebäudes einem Dritten zur unentgeltlichen Nutzung überlässt, ist insoweit irrelevant.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.

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