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Document 62002CJ0255

Urteil des Gerichtshofes (Große Kammer) vom 21. Februar 2006.
Halifax plc, Leeds Permanent Development Services Ltd und County Wide Property Investments Ltd gegen Commissioners of Customs & Excise.
Ersuchen um Vorabentscheidung: VAT and Duties Tribunal, London - Vereinigtes Königreich.
Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie - Artikel 2 Nummer 1, 4 Absätze 1 und 2, 5 Absatz 1 und 6 Absatz 1 - Wirtschaftliche Tätigkeit - Lieferungen von Gegenständen - Dienstleistungen - Missbräuchliche Praxis - Umsätze, deren alleiniger Zweck darin besteht, einen Steuervorteil zu erlangen.
Rechtssache C-255/02.

European Court Reports 2006 I-01609

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2006:121

Rechtssache C-255/02

Halifax plc u. a.

gegen

Commissioners of Customs & Excise

(Vorabentscheidungsersuchen des VAT and Duties Tribunal, London)

„Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie – Artikel 2 Nummer 1, 4 Absätze 1 und 2, 5 Absatz 1 und 6 Absatz 1 – Wirtschaftliche Tätigkeit – Lieferungen von Gegenständen – Dienstleistungen – Missbräuchliche Praxis – Umsätze, deren alleiniger Zweck darin besteht, einen Steuervorteil zu erlangen“

Schlussanträge des Generalanwalts M. Poiares Maduro vom 7. April 2005 

Urteil des Gerichtshofes (Große Kammer) vom 21. Februar 2006 

Leitsätze des Urteils

1.     Steuerrecht – Harmonisierung – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Lieferungen von Gegenständen – Dienstleistungen

(Richtlinie 77/388 des Rates, Artikel 2 Nummer 1, 4 Absätze 1 und 2, 5 Absatz 1 und 6 Absatz 1)

2.     Steuerrecht – Harmonisierung – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Vorsteuerabzug

(Richtlinie 77/388 des Rates, Artikel 17)

1.     Umsätze sind, selbst wenn sie ausschließlich in der Absicht getätigt werden, einen Steuervorteil zu erlangen, und sonst keinen wirtschaftlichen Zweck verfolgen, Lieferungen von Gegenständen oder Dienstleistungen und eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne der Artikel 2 Nummer 1, 4 Absätze 1 und 2, 5 Absatz 1 und 6 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern in ihrer durch die Richtlinie 95/7 geänderten Fassung, wenn sie die objektiven Kriterien erfüllen, auf denen diese Begriffe beruhen.

Die Begriffe des Steuerpflichtigen und der wirtschaftlichen Tätigkeiten sowie der Lieferungen von Gegenständen und der Dienstleistungen, die die nach der Sechsten Richtlinie steuerbaren Umsätze definieren, haben nämlich sämtlich objektiven Charakter und sind unabhängig von Zweck und Ergebnis der betroffenen Umsätze anwendbar. Insoweit wäre eine Verpflichtung der Steuerverwaltung, Untersuchungen anzustellen, um die Absicht des Steuerpflichtigen zu ermitteln, unvereinbar mit den Zielen des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems, Rechtssicherheit zu gewährleisten und die mit der Anwendung der Mehrwertsteuer verbundenen Maßnahmen dadurch zu erleichtern, dass, abgesehen von Ausnahmefällen, auf die objektive Natur des betreffenden Umsatzes abgestellt wird.

Auch wenn die genannten objektiven Kriterien im Fall einer Steuerhinterziehung z. B. durch falsche Steuererklärungen oder die Ausstellung nicht ordnungsgemäßer Rechnungen zwar nicht erfüllt sind, ändert das doch nichts daran, dass es bei der Feststellung, ob ein Umsatz eine Lieferung von Gegenständen oder eine Dienstleistung und eine wirtschaftliche Tätigkeit darstellt, nicht darauf ankommt, ob der betreffende Umsatz ausschließlich zur Erlangung eines Steuervorteils getätigt wurde.

(vgl. Randnrn. 55-57, 59-60, Tenor 1)

2.     Die Sechste Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern in ihrer durch die Richtlinie 95/7 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass sie dem Recht des Steuerpflichtigen auf Vorsteuerabzug entgegensteht, wenn die Umsätze, die dieses Recht begründen, eine missbräuchliche Praxis darstellen.

Die Feststellung einer missbräuchlichen Praxis erfordert zum einen, dass die fraglichen Umsätze trotz formaler Anwendung der Bedingungen der einschlägigen Bestimmungen der Sechsten Richtlinie und des zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Rechts einen Steuervorteil zum Ergebnis haben, dessen Gewährung dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel zuwiderlaufen würde. Zum anderen muss auch aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich sein, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt wird.

Würde Steuerpflichtigen der Abzug der gesamten Vorsteuer gestattet, während ihnen im Rahmen ihrer normalen Geschäftstätigkeit kein der Vorsteuerabzugsregelung der Sechsten Richtlinie oder dem zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Recht entsprechender Umsatz den Vorsteuerabzug erlaubt hätte oder ihnen nur ein teilweiser Abzug möglich gewesen wäre, so liefe dies dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität und damit dem Ziel der genannten Regelung zuwider.

Zum zweiten Kriterium, nach dem mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt werden muss, ist darauf hinzuweisen, dass es Sache des nationalen Gerichts ist, den tatsächlichen Inhalt und die wirkliche Bedeutung der fraglichen Umsätze festzustellen. Dabei kann es den rein willkürlichen Charakter dieser Umsätze sowie die rechtlichen, wirtschaftlichen und/oder personellen Verbindungen zwischen den Wirtschaftsteilnehmern berücksichtigen, die in einen Steuersparplan einbezogen sind.

Ist eine missbräuchliche Praxis festgestellt worden, so sind die diese Praxis bildenden Umsätze in der Weise neu zu definieren, dass auf die Lage abgestellt wird, die ohne die diese missbräuchliche Praxis begründenden Umsätze bestanden hätte.

Insoweit kann die Steuerverwaltung rückwirkend die Erstattung der abgezogenen Beträge für alle Umsätze verlangen, hinsichtlich deren sie feststellt, dass das Recht auf Vorsteuerabzug in missbräuchlicher Weise ausgeübt wurde. Sie muss davon jedoch auch alle Steuern auf Ausgangsumsätze abziehen, die der betreffende Steuerpflichtige im Rahmen des Steuersparplans willkürlich geschuldet hat, und sie muss gegebenenfalls überschießende Beträge erstatten. Genauso muss sie dem Steuerpflichtigen, der ohne eine missbräuchliche Praxis darstellende Umsätze der Begünstigte des ersten derartigen Umsatzes gewesen wäre, gestatten, die Steuer auf diesen Eingangsumsatz gemäß der Vorsteuerabzugsregelung der Sechsten Richtlinie abzuziehen.

(vgl. Randnrn. 74-75, 80-81, 85-86, 94-98, Tenor 2-3)




URTEIL DES GERICHTSHOFES (Große Kammer)

21. Februar 2006(*)

„Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie – Artikel 2 Nummer 1, 4 Absätze 1 und 2, 5 Absatz 1 und 6 Absatz 1 – Wirtschaftliche Tätigkeit – Lieferungen von Gegenständen – Dienstleistungen – Missbräuchliche Praxis – Umsätze, deren alleiniger Zweck darin besteht, einen Steuervorteil zu erlangen“

In der Rechtssache C-255/02

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 234 EG, eingereicht vom VAT and Duties Tribunal, London (Vereinigtes Königreich), mit Entscheidung vom 27. Juni 2002, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Juli 2002, in dem Verfahren

Halifax plc,

Leeds Permanent Development Services Ltd,

County Wide Property Investments Ltd

gegen

Commissioners of Customs & Excise

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten P. Jann, C. W. A. Timmermans, A. Rosas, K. Schiemann und J. Makarczyk, der Richter S. von Bahr (Berichterstatter) und J. N. Cunha Rodrigues, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter K. Lenaerts, P. Kūris, E. Juhász und G. Arestis,

Generalanwalt: M. Poiares Maduro,

Kanzler: K. Sztranc, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. November 2004,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–       der Halifax plc, der Leeds Permanent Development Services Ltd und der County Wide Property Investments Ltd, vertreten durch K. P. E. Lasok, QC, und M. Patchett-Joyce, Barrister, beauftragt durch S. Garrett, Solicitor,

–       der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch J. Collins und R. Caudwell als Bevollmächtigte im Beistand von J. Peacock und C. Vajda, QC, sowie M. Angiolini, Barrister,

–       der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und C. Jurgensen-Mercier als Bevollmächtigte,

–       Irlands, vertreten durch D. J. O’Hagan als Bevollmächtigten im Beistand von A. M. Collins, SC,

–       der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch R. Lyal als Bevollmächtigten,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. April 2005

folgendes

Urteil

1       Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) in ihrer durch die Richtlinie 95/7/EG des Rates vom 10. April 1995 (ABl. L 102, S. 18) geänderten Fassung (im Folgenden: Sechste Richtlinie).

2       Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Halifax plc (im Folgenden: Halifax), der Leeds Permanent Development Services Ltd (im Folgenden: Leeds Development) und der County Wide Property Investments Ltd (im Folgenden: County) einerseits und den Commissioners of Customs & Excise (im Folgenden: Commissioners) andererseits wegen der Ablehnung von Anträgen auf Mehrwertsteuervergütung oder ‑abzug, die die Leeds Development und die County im Rahmen eines Planes zur Verringerung der Steuerbelastung der Halifax plc Group gestellt hatten, durch die Commissioners.

 Rechtlicher Rahmen

3       Nach Artikel 2 Nummer 1 der Sechsten Richtlinie unterliegen der Mehrwertsteuer Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt.

4       Nach Artikel 4 Absatz 1 dieser Richtlinie gilt als Steuerpflichtiger, wer eine der in Absatz 2 dieses Artikels genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig ausübt. Der Begriff „wirtschaftliche Tätigkeiten“ ist in diesem Absatz 2 definiert als alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden, u. a. Leistungen, die die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen umfassen.

5       Gemäß Artikel 5 Absatz 1 dieser Richtlinie gilt als „Lieferung eines Gegenstands … die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen“.

6       Nach Artikel 6 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie gilt als „Dienstleistung … jede Leistung, die keine Lieferung eines Gegenstands im Sinne des Artikels 5 ist“.

7       Nach Artikel 13 Teil B Buchstabe b der Sechsten Richtlinie befreien die Mitgliedstaaten die Vermietung und Verpachtung von Grundstücken abgesehen von einigen in dieser Bestimmung aufgezählten Ausnahmen von der Steuer. Sie können jedoch nach Artikel 13 Teil C Absatz 1 Buchstabe a dieser Richtlinie ihren Steuerpflichtigen das Recht einräumen, für eine Besteuerung dieser Umsätze zu optieren.

8       Artikel 13 Teil B Buchstabe d der Richtlinie sieht vor, dass die Mitgliedstaaten bestimmte Tätigkeiten auf dem Sektor der Finanzdienstleistungen von der Mehrwertsteuer befreien.

9       Artikel 17 Absatz 2 Buchstabe a dieser Richtlinie bestimmt:

„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige befugt, von der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

a)      die im Inland geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert wurden oder geliefert werden bzw. erbracht wurden oder erbracht werden.“

10     Soweit Gegenstände und Dienstleistungen von einem Steuerpflichtigen sowohl für Umsätze verwendet werden, für die ein Recht auf Vorsteuerabzug besteht, als auch für solche, für die dieses Recht nicht besteht, ist nach Artikel 17 Absatz 5 Unterabsatz 1 der Sechsten Richtlinie „der Vorsteuerabzug nur für den Teil der Mehrwertsteuer zulässig, der auf den Betrag der erstgenannten Umsätze entfällt“.

11     Nach Unterabsatz 2 dieser Bestimmung wird „[d]ieser Pro-rata-Satz … nach Artikel 19 für die Gesamtheit der vom Steuerpflichtigen bewirkten Umsätze festgelegt“.

 Das Ausgangsverfahren und die Vorlagefragen

12     Die Halifax ist eine Bank. Ihre Leistungen sind überwiegend von der Mehrwertsteuer befreit. Zu der im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit konnte sie weniger als 5 % der als Vorsteuer entrichteten Mehrwertsteuer vergütet erhalten.

13     Nach den von der Halifax eingereichten Erklärungen ist die Leeds Development eine Grundstückerschließungsgesellschaft und die County eine Grundstückerschließungs- und Anlagegesellschaft.

14     Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Leeds Development und die County sowie eine weitere in die fraglichen Umsätze mit einbezogene Gesellschaft der Halifax plc Group, nämlich die Halifax Property Investments Ltd (im Folgenden: Property), alle hundertprozentige Tochtergesellschaften der Halifax sind. Die Leeds Development und die County sind im Mehrwertsteuerregister jeweils für sich eingetragen, während die Property nicht eingetragen ist.

15     Für ihre Geschäftstätigkeit musste die Halifax Call Center errichten, und zwar auf vier verschiedenen, in Cromac Wood und Dundonald in Nordirland, in Livingston in Schottland und in West Bank, Leeds, im Nordosten Englands belegenen Liegenschaften, die sie entweder für etwa 125 Jahre gepachtet hatte oder an denen sie eigentumsähnliche Nutzungsrechte („fee simple interest“ bzw. „freehold“) hatte.

16     Sie schloss zunächst, am 17. Dezember 1999, einen Erschließungsvertrag über die Liegenschaft Cromac Wood mit der Cusp Ltd, einer unabhängigen Grundstückerschließungs- und Baugesellschaft. Mit Novationsvereinbarung vom 28. Februar 2000 löste sich die Halifax dann von diesem Vertrag, und die County trat in ihre Rechte und Pflichten ein.

17     Zwischen dem 29. Februar und dem 6. April 2000 schlossen die Halifax, die Leeds Development, die County und die Property eine Reihe von Vereinbarungen über die verschiedenen Liegenschaften. Ausweislich der Vorlageentscheidung gingen sie dabei für alle Liegenschaften in der gleichen Weise vor.

18     Hinsichtlich Cromac Wood, Dundonald und Livingston schloss die Halifax am 29. Februar 2000 Darlehensverträge mit der Leeds Development, gemäß denen sie der Letztgenannten Darlehen in ausreichender Höhe gewährte, damit diese für insgesamt 59 000 000 GBP Rechte an den betreffenden Liegenschaften erwerben und diese erschließen konnte.

19     Die Halifax und die Leeds Development schlossen auch eine Vereinbarung im Hinblick auf die Ausführung bestimmter Bauarbeiten auf diesen Liegenschaften. Für diese Arbeiten erhielt die Leeds Development von der Halifax eine Zahlung von etwas mehr als 120 000 GBP, von denen fast 20 000 auf die Mehrwertsteuer entfielen. Die Leeds Development stellte der Halifax drei quittierte Mehrwertsteuerrechnungen über diesen Betrag aus. Ferner schloss die Halifax mit der Leeds Development einen Vertrag, mit dem dieser die drei Liegenschaften gegen Zahlung einer Prämie für jeweils 20 Jahre mit Verlängerungsoption auf 99 Jahre für die Pächterin verpachtet wurden.

20     Am 29. Februar 2000 traf die Leeds Development auch eine Erschließungs- und Finanzierungsvereinbarung mit der County, aufgrund deren die Letztgenannte auf den Grundstücken in Cromac Wood, Dundonald und Livingston Bauarbeiten ausführen oder ausführen lassen musste, einschließlich der Arbeiten, die die Leeds Development gemäß ihrem Vertrag mit der Halifax übernommen hatte.

21     Zum selben Zeitpunkt leistete die Halifax der Leeds Development die ersten Anzahlungen auf die Darlehen sowie die Zahlung für die genannten Arbeiten, und zwar in Höhe von insgesamt 44 815 000 GBP. Dieser Betrag wurde auf ein entsprechend den Weisungen der Leeds Development verwaltetes Anderkonto überwiesen. Diese erteilte die Anweisung, einen Betrag gleicher Höhe, in dem mehr als 6 600 000 GBP Mehrwertsteuer enthalten waren, an die County als Anzahlung für die von dieser oder auf deren Betreiben hin ausgeführten Arbeiten zu zahlen. Diese Transaktion wurde noch am selben Tag von der betroffenen Bank bestätigt, und die Gelder wurden daraufhin in einem Nachtdepot hinterlegt. Am selben Tag stellte die County der Leeds Development eine quittierte Mehrwertsteuerrechnung aus.

22     Der 29. Februar 2000 war zugleich der letzte Tag des Anmeldungszeitraums 2/00 der Leeds Development. Diese gab eine Voranmeldung ab, in der sie eine Mehrwertsteuervergütung in Höhe von beinahe 6 700 000 GBP beantragte.

23     Am 1. März 2000 wurde gemäß der Anweisung der Leeds Development ein Betrag von 44 815 000 GBP zuzüglich aufgelaufener Zinsen auf ein bei einer anderen Bank auf den Namen der County eröffnetes Konto überwiesen.

24     Am 6. April 2000 überließ die Halifax der Leeds Development gemäß dem Vertrag vom 29. Februar 2000 die Grundstücke auf den Liegenschaften Cromac Wood, Dundonald und Livingston gegen Zahlung von Prämien in Höhe von insgesamt etwa 7 400 000 GBP zur Pacht, wobei die Verpachtung jeweils als mehrwertsteuerbefreite Leistung behandelt wurde. Diese Prämien wurden durch Abruf weiterer Tranchen des aufgrund der ursprünglichen Darlehensverträge bereitgestellten Betrages finanziert.

25     Am selben Tag verpflichtete sich die Leeds Development ferner, jede dieser Pachten gegen Zahlung einer Prämie an die Property abzutreten, wobei die Abtretungen am ersten Werktag nach Abschluss der Arbeiten auf der betreffenden Liegenschaft wirksam werden sollten und als mehrwertsteuerbefreite Umsätze behandelt wurden. Die Prämie berechnete sich nach einer Formel, die der Leeds Development einen Gesamtgewinn von 180 000 GBP einbringen sollte. Die Property verpflichtete sich ihrerseits, die Gebäude in Cromac Wood, Dundonald und Livingston an die Halifax unterzuverpachten, und zwar jeweils gegen Zahlung einer Prämie, die sich anhand des von der Property an die Leeds Development für die Abtretung der betreffenden Pachten gezahlten Preises zuzüglich einer Gewinnspanne errechnete. Die Property sollte aus diesen Unterverpachtungen einen Gesamtgewinn von 85 000 GBP erzielen.

26     Bezüglich der Liegenschaft West Bank in Leeds schlossen die Halifax und die Leeds Development am 13. März 2000 einen Darlehens- sowie einen Pachtvertrag und vereinbarten die Ausführung von Arbeiten. Die Halifax zahlte für die ersten ausgeführten Arbeiten 41 900 GBP, davon etwas mehr als 6 000 GBP Mehrwertsteuer, und die Leeds Development stellte eine quittierte Mehrwertsteuerrechnung über diesen Gesamtbetrag aus. Die Halifax leistete aufgrund des Darlehensvertrags eine erste Anzahlung in Höhe von etwa 3 000 000 GBP an die Leeds Development.

27     Am selben Tag trafen die Leeds Development und die County eine Erschließungs- und Finanzierungsvereinbarung. Die Leeds Development leistete eine Vorauszahlung zugunsten der County, und diese stellte quittierte Mehrwertsteuerrechnungen in Höhe von mehr als 3 000 000 GBP, davon etwa 455 000 GBP Mehrwertsteuer, für die ausgeführten Arbeiten aus. In ihrer Mehrwertsteueranmeldung für den März 2000 machte die Leeds Development die Vergütung von fast 455 000 GBP Vorsteuer geltend.

28     Am 6. April 2000 verpachtete die Halifax der Leeds Development das auf der Liegenschaft West Bank belegene Grundstück, und es wurde die Abtretung dieser Pacht durch die Leeds Development an die Property gegen Zahlung einer Prämie vereinbart. Mit gesonderter Vereinbarung verpflichtete sich die Property zur Unterverpachtung an die Halifax.

29     Die County beauftragte unabhängige Unternehmen und Angehörige der freien Berufe (im Folgenden: unabhängige Bauunternehmer) mit der Ausführung der Arbeiten gemäß den einzelnen Vereinbarungen mit der Leeds Development. Das vorlegende Gericht führt aus, dass die Verträge mit den unabhängigen Bauunternehmern möglicherweise schrittweise geschlossen worden seien und dass die ihm zur Kenntnis gebrachten Verträge von gesonderten Vereinbarungen begleitet worden seien, an denen die Halifax beteiligt gewesen sei. In diesen gesonderten Vereinbarungen werde der Halifax u. a. die Erfüllung der Aufgaben und Verpflichtungen durch den jeweiligen unabhängigen Bauunternehmer zugesichert.

30     Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts sollten mit den vorstehend genannten Vereinbarungen folgende steuerlichen Auswirkungen erzielt werden:

–       Die Halifax könnte den abzugsfähigen Teil der Vorsteuer für die Arbeiten gemäß den Vereinbarungen mit der Leeds Development in Abzug bringen.

–       Die Leeds Development könnte für den Anmeldungszeitraum Februar 2000 die auf der Rechnung der County vom 29. Februar 2000 ausgewiesene Mehrwertsteuer, also über 6 600 000 GBP, und für den Anmeldungszeitraum März 2000 die auf der Rechnung vom 13. März 2000 ausgewiesene Mehrwertsteuer, also etwa 455 000 GBP, in Abzug bringen.

–       Die County würde Umsatzsteuer in Höhe der gesamten auf den genannten Rechnungen ausgewiesenen Mehrwertsteuer anmelden und könnte die Vorsteuer für die von den unabhängigen Bauunternehmern ausgeführten Arbeiten in Abzug bringen.

–       Die Vereinbarungen der Leeds Development vom 6. April 2000 über die Abtretung der Pachten an den vier Liegenschaften an die Property wären steuerbefreite Umsätze. Da die betreffenden Leistungen in ein anderes Rechnungsjahr fallen würden, würden sie keine Berichtigung der Vorsteuervergütungsansprüche der Leeds Development für die in das am 31. März 2000 abgeschlossene Rechnungsjahr fallenden Anmeldungszeiträume Februar und März 2000 nach sich ziehen.

31     Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts setzte das Funktionieren dieses Planes Folgendes voraus:

–       Die Halifax, die Leeds Development und die County mussten jeweils für sich in das Mehrwertsteuerregister eingetragen sein.

–       Während des gesamten ersten betroffenen Rechnungsjahrs musste der zum Normalsatz besteuerte Umsatz der Leeds Development einen möglichst hohen Anteil an ihrem Gesamtumsatz ausmachen. Zu diesem Zweck mussten die steuerbefreiten Leistungen der Leeds Development, die in der Abtretung ihrer Rechte an den Liegenschaften an die Property lagen, auf ein späteres Rechnungsjahr verschoben werden.

–       Die Eigentumsrechte der Leeds Development an den Liegenschaften mussten so ausgestaltet sein, dass sie nicht als Vermögensposten zählten. Andernfalls hätte sich die Abtretung dieser Rechte an die Property auf die Abzugsrechte der Leeds Development ausgewirkt.

32     Mit Entscheidungen vom 4. und 7. Juli 2000 lehnten die Commissioners die Vorsteuerabzugsanträge der Leeds Development und die der County betreffend die Mehrwertsteuer, die ihr die unabhängigen Bauunternehmer in Rechnung gestellt hatten, ab.

33     Nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts waren die Commissioners folgender Ansicht:

–       Da die Leeds Development weder Arbeiten gegenüber der Halifax erbracht noch Bauleistungen von der County empfangen habe, müssten diese Umsätze für Mehrwertsteuerzwecke außer Betracht bleiben.

–       In ihrem Gesamtzusammenhang betrachtet zeigten die Vereinbarungen, dass die Halifax die Arbeitsleistungen von den unabhängigen Bauunternehmern und nicht von der Leeds Development empfangen habe. Die Halifax könne somit die Mehrwertsteuer auf diese Arbeiten unter Anwendung ihres normalen Vergütungssatzes in Abzug bringen.

34     Die Halifax, die Leeds Development und die County fochten die Entscheidungen der Commissioners vor dem VAT and Duties Tribunal London an. Die Halifax machte geltend, diese Entscheidungen führten dazu, sie so zu behandeln, als ob sie steuerpflichtige Baudienstleistungen empfangen hätte; diese Leistungen hätten aber als gegenüber der County erbracht behandelt werden müssen. Die Leeds Development und die County brachten vor, diese Entscheidungen kämen einer Ablehnung ihrer Anträge auf Vorsteuervergütung oder ‑abzug gleich.

35     Alle drei wiesen darauf hin, dass es sich bei den Umsätzen im Rahmen der von ihrer Klage betroffenen Vereinbarungen um wirkliche Umsätze gehandelt habe. Nicht nur die Lieferungen und Dienstleistungen der unabhängigen Bauunternehmer, sondern auch die Baudienstleistungen der County und der Leeds Development sowie die Lieferung von Grundstücken durch die Letztgenannte dienten Geschäftsinteressen. Diese beiden Gesellschaften und die Property müssten den Nutzen aus ihrer jeweiligen Beteiligung an diesen Vereinbarungen ziehen. Obwohl die Vereinbarungen so gestaltet worden seien, dass ein vorteilhaftes steuerliches Ergebnis erzielt werde, schreibe das Mehrwertsteuersystem die Berechnung der Steuer Umsatz für Umsatz vor.

36     Die Commissioners vertraten erstens die Ansicht, dass ein Umsatz, der nur getätigt werde, um die Mehrwertsteuer zu vermeiden, selbst weder eine „Lieferung“ oder eine „Dienstleistung“ noch eine Maßnahme im Rahmen der Ausübung einer „wirtschaftlichen Tätigkeit“ in dem Sinne sei, wie er diesen Begriffen der Sechsten Richtlinie zukomme. Die Anwendung dieses Auslegungsgrundsatzes auf die fraglichen Vereinbarungen bedeute, dass die Verpflichtungen der Leeds Development gegenüber der Halifax nicht als „Lieferungen“ oder „Dienstleistungen“ in Frage kämen; Gleiches gelte für die Verpflichtungen der County gegenüber der Leeds Development.

37     Zweitens machten die Commissioners geltend, dass gemäß dem im Gemeinschaftsrecht geltenden allgemeinen Grundsatz der Verhütung von Rechtsmissbrauch Umsätze mit dem alleinigen Ziel der Mehrwertsteuervermeidung nicht zu berücksichtigen, sondern die Bestimmungen der Sechsten Richtlinie auf die wahre Natur der fraglichen Umsätze anzuwenden seien. Aus welchem Blickwinkel die genannten Vereinbarungen auch untersucht würden, erweise sich, dass nur die unabhängigen Bauunternehmer tatsächlich Baudienstleistungen erbracht hätten, und zwar unmittelbar gegenüber der Halifax.

38     Mit Entscheidung vom 5. Juli 2001 wies das VAT and Duties Tribunal die Klagen ab.

39     Die Halifax, die Leeds Development und die County legten dagegen Rechtsmittel beim High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division, ein, der die genannte Entscheidung aufhob und die Sache an das VAT and Duties Tribunal zurückverwies.

40     Dieses führt aus, dass es sich bei seiner ersten Entscheidung, vom 5. Juli 2001, auf eine Auslegung von Artikel 4 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie gestützt habe, nach der für die Feststellung, dass die betreffenden Umsätze keine Lieferungen oder Dienstleistungen im Sinne des Mehrwertsteuerrechts seien, auf ihre objektiven Merkmale abzustellen sei. Nun müsse der Gerichtshof mit der Auslegung dieser Bestimmung befasst werden.

41     Außerdem sei der Ausgangsrechtsstreit in dieser ersten Entscheidung entschieden worden, ohne dass auf die Frage eingegangen worden sei, ob irgendein „Rechtsmissbrauch“ der an den fraglichen Umsätzen Beteiligten vorgelegen habe. Da diese Entscheidung aufgehoben worden sei, stelle sich auch die Frage nach der Auslegung besagten Grundsatzes.

42     Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass aus den Zeugenaussagen der Geschäftsführer der Halifax, der Leeds Development und der County hervorgehe, dass sich die beiden letztgenannten Gesellschaften in die fraglichen Umsätze nur eingeschaltet hätten, um die Mehrwertsteuer zu vermeiden. Mit anderen Worten sei es die Absicht der Halifax, der Leeds Development und der County gewesen, durch die Umsetzung eines willkürlich gestalteten Steuervermeidungsplans einen Steuervorteil zu erlangen. Das vorlegende Gericht verweist hierzu auf das Urteil vom 14. Dezember 2000 in der Rechtssache C‑110/99 (Emsland-Stärke, Slg. 2000, I‑11569, Randnr. 53).

43     Unter diesen Umständen hat das VAT and Duties Tribunal London das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      a)     Sind unter den relevanten Umständen die Umsätze,

         i)     die jeder Beteiligte ausschließlich in der Absicht getätigt hat, einen Steuervorteil zu erlangen, und

         ii)   mit denen kein selbständiger Geschäftszweck verfolgt wurde,

         für die Zwecke der Mehrwertsteuer als Lieferungen oder Dienstleistungen anzusehen, die von den Beteiligten oder zu ihren Gunsten im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeiten ausgeführt wurden?

         b)     Welche Faktoren sind unter den relevanten Umständen bei der Prüfung der Frage zu berücksichtigen, wer die Lieferungen oder Dienstleistungen von den unabhängigen Bauunternehmern erhalten hat?

2.      Sind nach der vom Gerichtshof entwickelten Rechtsmissbrauchslehre die Anträge der Klägerinnen auf Vergütung oder Abzug der sich aus der Ausführung der relevanten Umsätze ergebenden Vorsteuer abzulehnen?

 Zur ersten Frage, Buchstabe a

44     Mit seiner ersten Frage, Buchstabe a, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Umsätze wie die des Ausgangsverfahrens Lieferungen von Gegenständen oder Dienstleistungen und eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne der Artikel 2 Nummer 1, 4 Absätze 1 und 2, 5 Absatz 1 und 6 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie darstellen, wenn sie ausschließlich in der Absicht getätigt werden, einen Steuervorteil zu erlangen, und sonst keinen wirtschaftlichen Zweck verfolgen.

 Vor dem Gerichtshof abgegebene Erklärungen

45     Die Halifax, die Leeds Development und die County machen geltend, dass im System der Sechsten Richtlinie Umsätze, die getätigt worden seien, dies aber ausschließlich in der Absicht, einen Steuervorteil zu erlangen, und ohne einen selbständigen wirtschaftlichen Zweck zu verfolgen, für Mehrwertsteuerzwecke Lieferungen oder Dienstleistungen seien, die von den oder zugunsten der Beteiligten im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeiten ausgeführt worden seien.

46     Die Regierung des Vereinigten Königreichs und Irland sind der Ansicht, dass Umsätze, die zum einen von den einzelnen Beteiligten nur getätigt würden, um einen Steuervorteil zu erlangen, und mit denen zum anderen kein selbständiger wirtschaftlicher Zweck verfolgt werde, keine Lieferungen oder Dienstleistungen seien, die von den Beteiligten im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeiten ausgeführt würden.

47     Nach Ansicht der Kommission kommt es für die Zwecke des Artikels 2 der Sechsten Richtlinie auf den Zweck, zu dem ein Umsatz getätigt werde, nicht an.

 Würdigung durch den Gerichtshof

48     Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass mit der Sechsten Richtlinie ein gemeinsames Mehrwertsteuersystem geschaffen worden ist, das insbesondere auf einer einheitlichen Definition der steuerbaren Umsätze beruht (vgl. u. a. Urteil vom 26. Juni 2003 in der Rechtssache C‑305/01, MGK‑Kraftfahrzeuge‑Factoring, Slg. 2003, I‑6729, Randnr. 38).

49     Insoweit erkennt die Sechste Richtlinie der Mehrwertsteuer einen sehr weiten Anwendungsbereich zu, indem sie in Artikel 2, der die steuerbaren Umsätze betrifft, außer der Einfuhr von Gegenständen Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen erfasst, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt.

50     Was zunächst den Begriff „Lieferungen von Gegenständen“ betrifft, so gilt nach Artikel 5 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie als eine solche Lieferung die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.

51     Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergibt sich, dass dieser Begriff jede Übertragung eines körperlichen Gegenstands durch eine Partei umfasst, die die andere Partei ermächtigt, über diesen Gegenstand faktisch so zu verfügen, als wäre sie sein Eigentümer (vgl. u. a. Urteile vom 8. Februar 1990 in der Rechtssache C‑320/88, Shipping and Forwarding Enterprise Safe, Slg. 1990, I‑285, Randnr. 7, und vom 21. April 2005 in der Rechtssache C‑25/03, HE, Slg. 2005, I‑3123, Randnr. 64).

52     Was den Begriff „Dienstleistungen“ anbelangt, so erfasst er nach Artikel 6 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie jede Leistung, die keine Lieferung eines Gegenstands im Sinne des Artikels 5 dieser Richtlinie ist.

53     Sodann gilt nach Artikel 4 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie als Steuerpflichtiger, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit selbständig ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis.

54     Schließlich ist der Begriff „wirtschaftliche Tätigkeiten“ in Artikel 4 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie als „alle“ Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden definiert und schließt nach der Rechtsprechung sämtliche Stadien der Erzeugung, des Handels und der Erbringung von Dienstleistungen ein (vgl. u. a. Urteile vom 4. Dezember 1990 in der Rechtssache C-186/89, Van Tiem, Slg. 1990, I‑4363, Randnr. 17, und MGK-Kraftfahrzeuge-Factoring, Randnr. 42).

55     Wie der Gerichtshof in Randnummer 26 des Urteils vom 12. September 2000 in der Rechtssache C‑260/98 (Kommission/Griechenland, Slg. 2000, I‑6537) festgestellt hat, wird aus der Analyse der Definitionen der Begriffe des Steuerpflichtigen und der wirtschaftlichen Tätigkeiten deutlich, dass sich der Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeiten auf einen weiten Bereich erstreckt und dass es sich dabei um einen objektiv festgelegten Begriff handelt, da die Tätigkeit an sich, unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, betrachtet wird (vgl. auch Urteil vom 26. März 1987 in der Rechtssache 235/85, Kommission/Niederlande, Slg. 1987, 1471, Randnr. 8, sowie im gleichen Sinne u. a. Urteile vom 14. Februar 1985 in der Rechtssache 268/83, Rompelman, Slg. 1985, 655, Randnr. 19, und vom 27. November 2003 in der Rechtssache C‑497/01, Zita Modes, Slg. 2003, I‑14393, Randnr. 38).

56     Tatsächlich zeigt diese Analyse ebenso wie die der Begriffe „Lieferungen von Gegenständen“ und „Dienstleistungen“, dass die betreffenden Ausdrücke, die die nach der Sechsten Richtlinie steuerbaren Umsätze definieren, sämtlich objektiven Charakter haben und unabhängig von Zweck und Ergebnis der betroffenen Umsätze anwendbar sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Januar 2006 in den Rechtssachen C‑354/03, C‑355/03 und C‑484/03, Optigen u. a., Slg. 2006, I‑0000, Randnr. 44).

57     Wie der Gerichtshof in Randnummer 24 des Urteils vom 6. April 1995 in der Rechtssache C‑4/94 (BLP Group, Slg. 1995, I‑983) festgestellt hat, wäre eine Verpflichtung der Steuerverwaltung, Untersuchungen anzustellen, um die Absicht des Steuerpflichtigen zu ermitteln, unvereinbar mit den Zielen des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems, Rechtssicherheit zu gewährleisten und die mit der Anwendung der Mehrwertsteuer verbundenen Maßnahmen dadurch zu erleichtern, dass, abgesehen von Ausnahmefällen, auf die objektive Natur des betreffenden Umsatzes abgestellt wird.

58     Folglich sind Umsätze wie die des Ausgangsverfahrens Lieferungen von Gegenständen oder Dienstleistungen und eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne der Artikel 2 Nummer 1, 4 Absätze 1 und 2, 5 Absatz 1 und 6 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie, wenn sie die objektiven Kriterien erfüllen, auf denen diese Begriffe beruhen.

59     Zwar sind diese Kriterien im Fall einer Steuerhinterziehung z. B. durch falsche Steuererklärungen oder die Ausstellung nicht ordnungsgemäßer Rechnungen nicht erfüllt. Das ändert jedoch nichts daran, dass es bei der Feststellung, ob ein Umsatz eine Lieferung von Gegenständen oder eine Dienstleistung und eine wirtschaftliche Tätigkeit darstellt, nicht darauf ankommt, ob der betreffende Umsatz ausschließlich zur Erlangung eines Steuervorteils getätigt wurde.

60     Folglich ist auf die erste Frage, Buchstabe a, zu antworten, dass Umsätze wie die im Ausgangsverfahren fraglichen, selbst wenn sie ausschließlich in der Absicht getätigt werden, einen Steuervorteil zu erlangen, und sonst keinen wirtschaftlichen Zweck verfolgen, Lieferungen von Gegenständen oder Dienstleistungen und eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne der Artikel 2 Nummer 1, 4 Absätze 1 und 2, 5 Absatz 1 und 6 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie sind, wenn sie die objektiven Kriterien erfüllen, auf denen diese Begriffe beruhen.

 Zur zweiten Frage

61     Mit seiner zweiten Frage, die vor der ersten Frage, Buchstabe b, zu untersuchen ist, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Sechste Richtlinie dahin ausgelegt werden muss, dass sie dem Recht des Steuerpflichtigen auf Vorsteuerabzug entgegensteht, wenn die Umsätze, die dieses Recht begründen, eine missbräuchliche Praxis darstellen.

 Vor dem Gerichtshof abgegebene Erklärungen

62     Nach Ansicht der Halifax, der Leeds Development und der County kennt das Gemeinschaftsrecht im Kontext des Mehrwertsteuersystems keine Rechtsmissbrauchslehre, auf die sich die Steuerbehörden eines Mitgliedstaats gegenüber den Einzelnen berufen könnten, um deren Anträge auf Vorsteuervergütung oder ‑abzug abzulehnen.

63     Die Regierung des Vereinigten Königreichs vertritt die Auffassung, dass das Rechtsmissbrauchsverbot ein allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts sei und es einem Steuerpflichtigen verbiete, die Vorsteuer gemäß Artikel 17 der Sechsten Richtlinie und dem jeweils anwendbaren nationalen Recht zur Umsetzung dieses Artikels abzuziehen, wenn aus dem Antrag auf Abzug hervorgehe, dass die in der Sechsten Richtlinie festgelegten Zwecke der Mehrwertsteuer nicht erreicht würden, und wenn der Steuerpflichtige die Voraussetzungen, die den Antrag auf Abzug rechtfertigten, willkürlich herbeiführe.

64     Die französische Regierung macht geltend, dass das Gemeinschaftsrecht, indem es einem Mitgliedstaat den Erlass von Maßnahmen gestatte, um zu verhindern, dass sich einige seiner Staatsangehörigen unter Ausnutzung der durch den EG-Vertrag geschaffenen Möglichkeiten missbräuchlich oder betrügerisch auf Gemeinschaftsrecht berufen könnten, einen Mitgliedstaat nicht daran hindere, einem Steuerpflichtigen oder einer Gruppe untereinander verbundener Steuerpflichtiger, die rein willkürliche Umsätze nur deshalb getätigt hätten, um eine ihnen nicht zustehende Mehrwertsteuervergütung zu erlangen, das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen.

65     Irland bringt vor, die Rechtsmissbrauchslehre, wie sie vom Gerichtshof entwickelt worden sei, gestatte es den Steuerbehörden, die Anträge von Steuerpflichtigen auf Vergütung oder Abzug der Vorsteuer abzulehnen, die sich aus der Ausführung von Umsätzen wie denen des Ausgangsverfahrens ergebe.

66     Nach Ansicht der Kommission dürfen Umsätze keine Berücksichtigung finden, die ein Steuerpflichtiger oder eine Gruppe untereinander verbundener Steuerpflichtiger in einer Umsatzkette tätigten und die zusammen einen willkürlich herbeigeführten Sachverhalt bildeten, dessen einziger Zweck es sei, die für die Wiedererlangung der Vorsteuer erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen.

 Würdigung durch den Gerichtshof

67     Vorab ist festzustellen, dass die Probleme, die mit den vom VAT and Duties Tribunal vorgelegten Fragen aufgeworfen werden, in Wirklichkeit zumindest teilweise auf eine nationale Regelung zurückzuführen zu sein scheinen, nach der ein Steuerpflichtiger, der sowohl besteuerte als auch steuerfreie oder nur steuerfreie Umsätze tätigt, die Miete oder Pacht von Immobiliareigentum auf ein anderes, von ihm kontrolliertes Rechtssubjekt übertragen kann, das das Recht hat, für die Besteuerung der Miete oder Pacht dieses Eigentums zu optieren und damit die gesamte auf Bau- oder Renovierungskosten entrichtete Vorsteuer abzuziehen.

68     Ungeachtet dieser Feststellung ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Gemeinschaftsrecht nicht erlaubt ist (vgl. u. a. Urteile vom 12. Mai 1998 in der Rechtssache C‑367/96, Kefalas u. a., Slg. 1998, I‑2843, Randnr. 20, vom 23. März 2000 in der Rechtssache C‑373/97, Diamantis, Slg. 2000, I‑1705, Randnr. 33, und vom 3. März 2005 in der Rechtssache C‑32/03, Fini H, Slg. 2005, I‑1599, Randnr. 32).

69     Die Anwendung des Gemeinschaftsrechts kann nämlich nicht so weit gehen, dass die missbräuchlichen Praktiken von Wirtschaftsteilnehmern gedeckt werden, d. h. diejenigen Umsätze, die nicht im Rahmen normaler Handelsgeschäfte, sondern nur zu dem Zweck getätigt werden, missbräuchlich in den Genuss von im Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Vorteilen zu kommen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 11. Oktober 1977 in der Rechtssache 125/76, Cremer, Slg. 1977, 1593, Randnr. 21, vom 3. März 1993 in der Rechtssache C‑8/92, General Milk Products, Slg. 1993, I‑779, Randnr. 21, und Emsland-Stärke, Randnr. 51).

70     Dieses grundsätzliche Verbot missbräuchlicher Praktiken gilt auch auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer.

71     Die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ist nämlich ein Ziel, das von der Sechsten Richtlinie anerkannt und gefördert wird (vgl. Urteil vom 29. April 2004 in den Rechtssachen C‑487/01 und C‑7/02, Gemeente Leusden und Holin Groep, Slg. 2004, I‑5337, Randnr. 76).

72     Wie der Gerichtshof jedoch vielfach entschieden hat, müssen Rechtsakte der Gemeinschaft auch bestimmt sein, und ihre Anwendung muss für die Betroffenen vorhersehbar sein (vgl. u. a. Urteil vom 22. November 2001 in der Rechtssache C‑301/97, Niederlande/Rat, Slg. 2001, I‑8853, Randnr. 43). Dieses Gebot der Rechtssicherheit gilt in besonderem Maße, wenn es sich um eine Regelung handelt, die sich finanziell belastend auswirken kann, denn die Betroffenen müssen in der Lage sein, den Umfang der ihnen damit auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen (vgl. u. a. Urteile vom 15. Dezember 1987 in der Rechtssache 326/85, Niederlande/Kommission, Slg. 1987, 5091, Randnr. 24, und vom 29. April 2004 in der Rechtssache C‑17/01, Sudholz, Slg. 2004, I‑4243, Randnr. 34).

73     Ferner ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass für einen Unternehmer die Wahl zwischen steuerfreien Umsätzen und besteuerten Umsätzen auf einer Reihe von Gesichtspunkten, insbesondere auf steuerlichen Überlegungen im Zusammenhang mit dem objektiven Mehrwertsteuersystem, beruhen kann (vgl. u. a. Urteile BLP Group, Randnr. 22, und vom 9. Oktober 2001 in der Rechtssache C‑108/99, Cantor Fitzgerald International, Slg. 2001, I‑7257, Randnr. 33). Wenn der Steuerpflichtige die Wahl zwischen zwei Umsätzen hat, schreibt ihm die Sechste Richtlinie nicht vor, den Umsatz zu wählen, der die höhere Mehrwertsteuerzahlung nach sich zieht. Der Steuerpflichtige hat vielmehr, wie der Generalanwalt in Nummer 85 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, das Recht, seine Tätigkeit so zu gestalten, dass er seine Steuerschuld in Grenzen hält.

74     In Anbetracht dessen erfordert auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer die Feststellung einer missbräuchlichen Praxis zum einen, dass die fraglichen Umsätze trotz formaler Anwendung der Bedingungen der einschlägigen Bestimmungen der Sechsten Richtlinie und des zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Rechts einen Steuervorteil zum Ergebnis haben, dessen Gewährung dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel zuwiderliefe.

75     Zum anderen muss auch aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich sein, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt wird. Denn wie der Generalanwalt in Nummer 89 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist das Missbrauchsverbot nicht relevant, wenn die fraglichen Umsätze eine andere Erklärung haben können als nur die Erlangung von Steuervorteilen.

76     Es ist Sache des nationalen Gerichts, gemäß den Beweisregeln des nationalen Rechts – soweit dadurch die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts nicht beeinträchtigt wird – festzustellen, ob die Tatbestandsvoraussetzungen eines missbräuchlichen Verhaltens im Ausgangsverfahren erfüllt sind (Urteil vom 21. Juli 2005 in der Rechtssache C‑515/03, Eichsfelder Schlachtbetrieb, Slg. 2005, I‑0000, Randnr. 40).

77     Der Gerichtshof kann jedoch, wenn er auf Vorlage entscheidet, gegebenenfalls Klarstellungen vornehmen, um dem nationalen Gericht eine Richtschnur für seine Auslegung zu geben (vgl. u. a. Urteil vom 17. Oktober 2002 in der Rechtssache C‑79/01, Payroll u. a., Slg. 2002, I‑8923, Randnr. 29).

78     Insoweit ist in Bezug auf den Zweck der Vorsteuerabzugsregelung der Sechsten Richtlinie daran zu erinnern, dass diese Regelung den Unternehmer vollständig von der im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlasten soll. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet daher Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, sofern diese Tätigkeiten grundsätzlich selbst der Mehrwertsteuer unterliegen (vgl. u. a. Urteile vom 22. Februar 2001 in der Rechtssache C‑408/98, Abbey National, Slg. 2001, I‑1361, Randnr. 24, und Zita Modes, Randnr. 38).

79     Nach ständiger Rechtsprechung sind nämlich Artikel 2 der Ersten Richtlinie 67/227/EWG des Rates vom 11. April 1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer (ABl. 1967, Nr. 71, S. 1301) und Artikel 17 Absätze 2, 3 und 5 der Sechsten Richtlinie so auszulegen, dass grundsätzlich ein direkter und unmittelbarer Zusammenhang zwischen einem bestimmten Eingangsumsatz und einem oder mehreren Ausgangsumsätzen, die das Recht auf Vorsteuerabzug eröffnen, bestehen muss, damit der Steuerpflichtige zum Vorsteuerabzug berechtigt ist und der Umfang dieses Rechts bestimmt werden kann (Urteile vom 8. Juni 2000 in der Rechtssache C‑98/98, Midland Bank, Slg. 2000, I‑4177, Randnr. 24, Abbey National, Randnr. 26, und vom 27. September 2001 in der Rechtssache C‑16/00, Cibo Participations, Slg. 2001, I‑6663, Randnr. 29).

80     Würde aber Steuerpflichtigen der Abzug der gesamten Vorsteuer gestattet, während ihnen im Rahmen ihrer normalen Geschäftstätigkeit kein der Vorsteuerabzugsregelung der Sechsten Richtlinie oder dem zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Recht entsprechender Umsatz den Vorsteuerabzug erlaubt hätte oder ihnen nur ein teilweiser Abzug möglich gewesen wäre, so liefe dies dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität und damit dem Ziel der genannten Regelung zuwider.

81     Zum zweiten Kriterium, nach dem mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt werden muss, ist darauf hinzuweisen, dass es Sache des nationalen Gerichts ist, den tatsächlichen Inhalt und die wirkliche Bedeutung der fraglichen Umsätze festzustellen. Dabei kann es den rein willkürlichen Charakter dieser Umsätze sowie die rechtlichen, wirtschaftlichen und/oder personellen Verbindungen zwischen den Wirtschaftsteilnehmern berücksichtigen, die in den Steuersparplan einbezogen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil Emsland-Stärke, Randnr. 58).

82     Aus der Vorlageentscheidung geht jedenfalls hervor, dass mit den im Ausgangsverfahren fraglichen Umsätzen nach Ansicht des VAT and Duties Tribunal einzig ein Steuervorteil bezweckt wurde.

83     Schließlich ist daran zu erinnern, dass das in den Artikeln 17 ff. der Sechsten Richtlinie vorgesehene Recht auf Vorsteuerabzug integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer ist und grundsätzlich nicht eingeschränkt werden kann. Dieses Recht kann für die gesamte Steuerbelastung der vorausgehenden Umsatzstufen sofort ausgeübt werden (vgl. u. a. Urteile vom 6. Juli 1995 in der Rechtssache C‑62/93, BP Soupergaz, Slg. 1995, I‑1883, Randnr. 18, und vom 21. März 2000 in den Rechtssachen C‑110/98 bis C‑147/98, Gabalfrisa u. a., Slg. 2000, I‑1577, Randnr. 43).

84     Wie der Gerichtshof jedoch bereits entschieden hat, bleibt nur dann, wenn kein Fall von Betrug oder Missbrauch vorliegt, das einmal entstandene Recht auf Vorsteuerabzug vorbehaltlich etwaiger Berichtigungen gemäß Artikel 20 der Sechsten Richtlinie erhalten (vgl. u. a. Urteile vom 8. Juni 2000 in den Rechtssachen C‑400/98, Breitsohl, Slg. 2000, I‑4321, Randnr. 41, und C‑396/98, Schlossstrasse, Slg. 2000, I‑4279, Randnr. 42).

85     Deshalb ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Sechste Richtlinie dahin auszulegen ist, dass sie dem Recht des Steuerpflichtigen auf Vorsteuerabzug entgegensteht, wenn die Umsätze, die dieses Recht begründen, eine missbräuchliche Praxis darstellen.

86     Die Feststellung einer missbräuchlichen Praxis erfordert zum einen, dass die fraglichen Umsätze trotz formaler Anwendung der Bedingungen der einschlägigen Bestimmungen der Sechsten Richtlinie und des zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Rechts einen Steuervorteil zum Ergebnis haben, dessen Gewährung dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel zuwiderlaufen würde. Zum anderen muss auch aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich sein, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt wird.

 Zur ersten Frage, Buchstabe b

87     In Anbetracht der Antworten auf die erste Frage, Buchstabe a, und auf die zweite Frage ist die erste Frage, Buchstabe b, dahin zu verstehen, dass das vorlegende Gericht damit im Wesentlichen wissen möchte, unter welchen Bedingungen die Mehrwertsteuer erhoben werden kann, wenn eine missbräuchliche Praxis festgestellt worden ist.

 Vor dem Gerichtshof abgegebene Erklärungen

88     Nach Ansicht der Regierung des Vereinigten Königreichs ist auf die Anhaltspunkte abzustellen, die den wahren wirtschaftlichen Kern erkennen ließen und ausschlaggebend dafür seien, ob die Zwecke der Sechsten Richtlinie verwirklicht würden oder nicht.

89     Im Ausgangsverfahren seien dies die folgenden, vom VAT and Duties Tribunal in seiner ersten Entscheidung festgestellten Punkte:

a)      Die Halifax sei der führende Kopf hinter den Umsätzen gewesen;

b)      die Halifax habe sich um die unverzinste Finanzierung der Umsätze gekümmert;

c)      die Halifax habe stets den Besitz an den Liegenschaften behalten, so dass ihr die Vorteile aus den Bauarbeiten direkt zugute gekommen seien;

d)      die Halifax habe direkte vertragliche Verbindungen zu den unabhängigen Bauunternehmern in Form von Zusicherungen gehabt;

e)      weder die County noch die Leeds Development hätten bedeutsame Grundbesitzrechte gehabt.

Diese Anhaltspunkte führten zu der Schlussfolgerung, dass die Halifax die Empfängerin der von den unabhängigen Bauunternehmern erbrachten Leistungen sei, und damit zu einem Ergebnis, das im Einklang mit den Zwecken der Sechsten Richtlinie stehe.

 Würdigung durch den Gerichtshof

90     Vorab ist festzustellen, dass keine Bestimmung der Sechsten Richtlinie die Frage der Erhebung der Mehrwertsteuer behandelt. Die Richtlinie legt nur in Artikel 20 die Voraussetzungen dafür fest, dass der Vorsteuerabzug beim Empfänger der Lieferung oder der Dienstleistung berichtigt werden kann (vgl. Beschluss vom 3. März 2004 in der Rechtssache C‑395/02, Transport Service, Slg. 2004, I‑1991, Randnr. 27).

91     Es ist also grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten, die Voraussetzungen festzulegen, unter denen die Mehrwertsteuer nachträglich vom Fiskus erhoben werden kann, wobei jedoch die Grenzen, die sich aus dem Gemeinschaftsrecht ergeben, beachtet werden müssen (vgl. Beschluss Transport Service, Randnr. 28).

92     Insoweit ist jedoch daran zu erinnern, dass die Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten nach Artikel 22 Absatz 8 der Sechsten Richtlinie erlassen dürfen, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu verhindern, nicht über das hinausgehen dürfen, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist (vgl. Urteil Gabalfrisa u. a., Randnr. 52, und Beschluss Transport Service, Randnr. 29). Sie dürfen daher nicht so eingesetzt werden, dass sie die Neutralität der Mehrwertsteuer in Frage stellen, die ein Grundprinzip des durch das einschlägige Gemeinschaftsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist (vgl. Urteil vom 19. September 2000 in der Rechtssache C‑454/98, Schmeink & Cofreth und Strobel, Slg. 2000, I‑6973, Randnr. 59).

93     Ferner darf die Feststellung einer missbräuchlichen Praxis nicht zu einer Sanktion führen, die einer klaren und unzweideutigen Rechtsgrundlage bedürfte, sondern nur zu einer Rückzahlungspflicht als schlichte Folge dieser Feststellung, die den Rechtsgrund der Vorsteuerabzüge ganz oder teilweise entfallen lässt (vgl. in diesem Sinne Urteil Emsland-Stärke, Randnr. 56).

94     Daraus folgt, dass Umsätze im Rahmen einer missbräuchlichen Praxis in der Weise neu zu definieren sind, dass auf die Lage abgestellt wird, die ohne die diese missbräuchliche Praxis darstellenden Umsätze bestanden hätte.

95     Insoweit kann die Steuerverwaltung rückwirkend die Erstattung der abgezogenen Beträge für alle Umsätze verlangen, hinsichtlich deren sie feststellt, dass das Recht auf Vorsteuerabzug in missbräuchlicher Weise ausgeübt wurde (Urteil Fini H, Randnr. 33).

96     Sie muss davon jedoch auch alle Steuern auf Ausgangsumsätze abziehen, die der betreffende Steuerpflichtige im Rahmen des Steuersparplans willkürlich geschuldet hat, und sie muss gegebenenfalls überschießende Beträge erstatten.

97     Genauso muss sie dem Steuerpflichtigen, der ohne eine missbräuchliche Praxis darstellende Umsätze der Begünstigte des ersten derartigen Umsatzes gewesen wäre, gestatten, die Mehrwertsteuer auf diesen Eingangsumsatz gemäß der Vorsteuerabzugsregelung der Sechsten Richtlinie abzuziehen.

98     Somit ist auf die erste Frage, Buchstabe b, zu antworten, dass, wenn eine missbräuchliche Praxis festgestellt worden ist, die diese Praxis bildenden Umsätze in der Weise neu zu definieren sind, dass auf die Lage abgestellt wird, die ohne die diese missbräuchliche Praxis darstellenden Umsätze bestanden hätte.

 Kosten

99     Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

1.      Umsätze wie die im Ausgangsverfahren fraglichen sind, selbst wenn sie ausschließlich in der Absicht getätigt werden, einen Steuervorteil zu erlangen, und sonst keinen wirtschaftlichen Zweck verfolgen, Lieferungen von Gegenständen oder Dienstleistungen und eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne der Artikel 2 Nummer 1, 4 Absätze 1 und 2, 5 Absatz 1 und 6 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in ihrer durch die Richtlinie 95/7/EG des Rates vom 10. April 1995 geänderten Fassung, wenn sie die objektiven Kriterien erfüllen, auf denen diese Begriffe beruhen.

2.      Die Sechste Richtlinie ist dahin auszulegen, dass sie dem Recht des Steuerpflichtigen auf Vorsteuerabzug entgegensteht, wenn die Umsätze, die dieses Recht begründen, eine missbräuchliche Praxis darstellen.

Die Feststellung einer missbräuchlichen Praxis erfordert zum einen, dass die fraglichen Umsätze trotz formaler Anwendung der Bedingungen der einschlägigen Bestimmungen der Sechsten Richtlinie und des zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Rechts einen Steuervorteil zum Ergebnis haben, dessen Gewährung dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel zuwiderlaufen würde. Zum anderen muss auch aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich sein, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt wird.

3.      Ist eine missbräuchliche Praxis festgestellt worden, so sind die diese Praxis bildenden Umsätze in der Weise neu zu definieren, dass auf die Lage abgestellt wird, die ohne die diese missbräuchliche Praxis begründenden Umsätze bestanden hätte.

Unterschriften.


* Verfahrenssprache: Englisch.

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