EUR-Lex Access to European Union law

Back to EUR-Lex homepage

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 62018CJ0769

Urteil des Gerichtshofs (Achte Kammer) vom 12. März 2020.
Caisse d’assurance retraite et de la santé au travail d’Alsace-Moselle gegen SJ und Ministre chargé de la Sécurité sociale.
Vorabentscheidungsersuchen der Cour de cassation (Frankreich).
Vorlage zur Vorabentscheidung – Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Art. 5 Buchst. b – Erhöhung des Satzes der Altersrente – Berücksichtigung einer Beihilfe, die für die Erziehung eines behinderten Kindes in einem anderen Mitgliedstaat gezahlt wird – Grundsatz der Gleichstellung von Sachverhalten.
Rechtssache C-769/18.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2020:203

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

12. März 2020 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Art. 5 Buchst. b – Erhöhung des Satzes der Altersrente – Berücksichtigung einer Beihilfe, die für die Erziehung eines behinderten Kindes in einem anderen Mitgliedstaat gezahlt wird – Grundsatz der Gleichstellung von Sachverhalten“

In der Rechtssache C‑769/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) mit Entscheidung vom 29. November 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Dezember 2018, in dem Verfahren

Caisse d’assurance retraite et de la santé au travail d’Alsace-Moselle

gegen

SJ,

Ministre chargé de la Sécurité sociale

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin L. S. Rossi (Berichterstatterin) sowie der Richter J. Malenovský und F. Biltgen,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. Oktober 2019,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Caisse d’assurance retraite et de la santé au travail d’Alsace-Moselle, vertreten durch J.‑J. Gatineau, avocat,

der französischen Regierung, vertreten durch A.‑L. Desjonquères, A. Daly sowie D. Colas, A. Ferrand und R. Coesme als Bevollmächtigte,

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Pavliš und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

der deutschen Regierung, vertreten durch D. Klebs als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Valero und B.‑R. Killmann als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, Berichtigung ABl. 2004, L 200, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 988/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 (ABl. 2009, L 284, S. 43) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Caisse d’assurance retraite et de la santé au travail d’Alsace-Moselle (Versicherungskasse für Renten und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, Alsace-Moselle, Frankreich, im Folgenden: Carsat) auf der einen und SJ sowie dem Ministre chargé de la Sécurité sociale (Minister für soziale Sicherheit) auf der anderen Seite betreffend die Frage, ob bei der Berechnung der Altersrente von SJ die Erhöhung der Erwerbstätigkeitszeit, die SJ aufgrund der Erziehung ihres behinderten Kindes beanspruchen könnte, zu berücksichtigen ist.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Die Erwägungsgründe 9 und 12 der Verordnung Nr. 883/2004 lauten:

„(9)

Der Gerichtshof hat mehrfach zur Möglichkeit der Gleichstellung von Leistungen, Einkünften und Sachverhalten Stellung genommen; dieser Grundsatz sollte explizit aufgenommen und ausgeformt werden, wobei Inhalt und Geist der Gerichtsentscheidungen zu beachten sind.

(12)

Im Lichte der Verhältnismäßigkeit sollte sichergestellt werden, dass der Grundsatz der Gleichstellung von Sachverhalten oder Ereignissen nicht zu sachlich nicht zu rechtfertigenden Ergebnissen oder zum Zusammentreffen von Leistungen gleicher Art für denselben Zeitraum führt.“

4

Art. 1 Buchst. z der Verordnung Nr. 883/2004 sieht vor, dass der Ausdruck „Familienleistungen“ für die Zwecke der Verordnung „alle Sach- oder Geldleistungen zum Ausgleich von Familienlasten, mit Ausnahme von Unterhaltsvorschüssen und besonderen Geburts- und Adoptionsbeihilfen nach Anhang I“ bezeichnet.

5

Art. 3 („Sachlicher Geltungsbereich“) dieser Verordnung bestimmt:

„(1)   Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die folgende Leistungsarten betreffen:

a)

Leistungen bei Krankheit;

c)

Leistungen bei Invalidität;

d)

Leistungen bei Alter;

j)

Familienleistungen.

(3)   Diese Verordnung gilt auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen gemäß Artikel 70.

(5)   Die Verordnung gilt nicht für

a)

soziale und medizinische Fürsorge …

…“

6

Art. 5 („Gleichstellung von Leistungen, Einkünften, Sachverhalten oder Ereignissen“) der Verordnung sieht vor:

„Sofern in dieser Verordnung nicht anderes bestimmt ist, gilt unter Berücksichtigung der besonderen Durchführungsbestimmungen Folgendes:

a)

Hat nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats der Bezug von Leistungen der sozialen Sicherheit oder sonstiger Einkünfte bestimmte Rechtswirkungen, so sind die entsprechenden Rechtsvorschriften auch bei Bezug von nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gewährten gleichartigen Leistungen oder bei Bezug von in einem anderen Mitgliedstaat erzielten Einkünften anwendbar.

b)

Hat nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats der Eintritt bestimmter Sachverhalte oder Ereignisse Rechtswirkungen, so berücksichtigt dieser Mitgliedstaat die in einem anderen Mitgliedstaat eingetretenen entsprechenden Sachverhalte oder Ereignisse, als ob sie im eigenen Hoheitsgebiet eingetreten wären.“

7

Art. 9 („Erklärungen der Mitgliedstaaten zum Geltungsbereich dieser Verordnung“) der Verordnung Nr. 883/2004 sieht in seinem Abs. 1 vor:

„Die Mitgliedstaaten notifizieren der Kommission der Europäischen Gemeinschaften schriftlich … die Rechtsvorschriften, Systeme und Regelungen im Sinne des Artikels 3 …“

8

In Art. 70 Abs. 2 dieser Verordnung heißt es:

„Für die Zwecke dieses Kapitels bezeichnet der Ausdruck ‚besondere beitragsunabhängige Geldleistungen‘ die Leistungen:

a)

die dazu bestimmt sind:

i)

einen zusätzlichen, ersatzweisen oder ergänzenden Schutz gegen die Risiken zu gewähren, die von den in Artikel 3 Absatz 1 genannten Zweigen der sozialen Sicherheit gedeckt sind, und den betreffenden Personen ein Mindesteinkommen zur Bestreitung des Lebensunterhalts [zu] garantieren, das in Beziehung zu dem wirtschaftlichen und sozialen Umfeld in dem betreffenden Mitgliedstaat steht, oder

ii)

allein dem besonderen Schutz des Behinderten zu dienen, der eng mit dem sozialen Umfeld dieser Person in dem betreffenden Mitgliedstaat verknüpft ist,

und

b)

deren Finanzierung ausschließlich durch obligatorische Steuern zur Deckung der allgemeinen öffentlichen Ausgaben erfolgt und deren Gewährung und Berechnung nicht von Beiträgen hinsichtlich der Leistungsempfänger abhängen. Jedoch sind Leistungen, die zusätzlich zu einer beitragsabhängigen Leistung gewährt werden, nicht allein aus diesem Grund als beitragsabhängige Leistungen zu betrachten,

und

c)

die in Anhang X aufgeführt sind.“

9

Anhang X dieser Verordnung sieht vor:

„…

DEUTSCHLAND

a)

Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch.

b)

Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts der Grundsicherung für Arbeitssuchende, soweit für diese Leistungen nicht dem Grunde nach die Voraussetzungen für den befristeten Zuschlag nach Bezug von Arbeitslosengeld (§ 24 Absatz 1 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch) erfüllt sind.

…“

Deutsches Recht

10

§ 35a („Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche“) des Achten Buches Sozialgesetzbuch in seiner für das Ausgangsverfahren geltenden Fassung bestimmt:

„(1)

Kinder und Jugendliche, die seelisch behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, haben Anspruch auf Eingliederungshilfe. Die Hilfe wird nach dem Bedarf im Einzelfall

1.

in ambulanter Form,

2.

in Tageseinrichtungen für Kinder oder in anderen teilstationären Einrichtungen,

3.

durch geeignete Pflegepersonen und

4.

in Einrichtungen über Tag und Nacht sowie sonstigen Wohnformen geleistet.

Für Aufgabe und Ziel der Hilfe, die Bestimmung des Personenkreises sowie die Art der Maßnahmen gelten § 39 Abs. 3 und § 40 des Bundessozialhilfegesetzes sowie die Verordnung nach § 47 des Bundessozialhilfegesetzes, soweit die einzelnen Vorschriften auf seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Personen Anwendung finden.

(2)

Ist gleichzeitig Hilfe zur Erziehung zu leisten, so sollen Einrichtungen, Dienste und Personen in Anspruch genommen werden, die geeignet sind, sowohl die Aufgaben der Eingliederungshilfe zu erfüllen als auch den erzieherischen Bedarf zu decken. Sind heilpädagogische Maßnahmen für Kinder, die noch nicht im schulpflichtigen Alter sind, in Tageseinrichtungen für Kinder zu gewähren und lässt der Hilfebedarf es zu, so sollen Einrichtungen in Anspruch genommen werden, in denen behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam betreut werden.“

Französisches Recht

11

Art. L. 351‑4‑1 des Code de la sécurité sociale (Sozialgesetzbuch) sieht vor:

„Den Sozialversicherten, die ein Kind erziehen, das nach Art. L. 541‑1 Abs. 1 und 2 einen Anspruch auf die Beihilfe für die Erziehung behinderter Kinder und auf deren Ergänzung oder anstelle der Letzteren auf die Ausgleichsleistung nach Art. L. 245‑1 des Code de l’action sociale et des familles (Sozial- und Familiengesetzbuch) begründet, wird, unbeschadet gegebenenfalls des Art. L. 351‑4, eine Erhöhung ihrer Versicherungsdauer um ein Quartal für einen Erziehungszeitraum von jeweils 30 Monaten bis zur Obergrenze von acht Quartalen gewährt.“

12

Art. L. 541-1 des französischen Sozialgesetzbuchs bestimmt:

„Jeder, der die Betreuung eines behinderten Kindes übernimmt, hat Anspruch auf eine Beihilfe für die Erziehung behinderter Kinder, wenn die dauerhafte Behinderung des Kindes mindestens einem bestimmten Prozentsatz entspricht.

Eine Ergänzungsleistung wird für ein Kind mit einer Behinderung gewährt, deren Art oder Schwere besonders hohe Ausgaben verlangt oder die häufige Inanspruchnahme der Hilfe Dritter erfordert. Ihr Betrag hängt von der Höhe der zusätzlichen Ausgaben oder der Dauerhaftigkeit der erforderlichen Hilfe ab.

…“

13

Art. R. 541-1 dieses Gesetzbuchs lautet:

„Für die Anwendung des ersten Absatzes von Art. L. 541‑1 muss der Prozentsatz der dauerhaften Behinderung, die das behinderte Kind aufweisen muss, um einen Anspruch auf die Leistung für die Erziehung behinderter Kinder zu begründen, mindestens 80 % betragen.

Der Prozentsatz der Behinderung wird gemäß dem Leitfaden für die Gewichtung beurteilt, der dem Décret no 93‑1216 du 4 novembre 1993 relatif au guide-barème applicable pour l’attribution de diverses prestations aux personnes handicapées et modifiant le code de la famille et de l’aide sociale, le code de la sécurité sociale (deuxième partie: Décrets en Conseil d’État) et le décret no 77‑1549 du 31 décembre 1977 (Verordnung Nr. 93‑1216 vom 4. November 1993 über den Leitfaden für die Gewichtung, der für die Gewährung verschiedener Leistungen an behinderte Personen gilt, und zur Änderung des Familien- und Sozialhilfegesetzbuchs, des Sozialgesetzbuchs [Zweiter Teil: Verordnungen im Staatsrat] und der Verordnung Nr. 77‑1549 vom 31. Dezember 1977) angefügt ist.

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

14

SJ ist französische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Stuttgart (Deutschland). Sie ist Mutter eines 1981 geborenen behinderten Kindes. Sie arbeitete nacheinander in Frankreich und in Deutschland als Lehrkraft, die die höchste Befähigungsprüfung (Agrégation) der Éducation nationale (Staatliches Erziehungswesen, Frankreich) bestanden hat.

15

Ab 10. November 1995 zahlte die Stadt Stuttgart an SJ eine Eingliederungsbeihilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche gemäß § 35a des deutschen Sozialgesetzbuchs (im Folgenden: deutsche Beihilfe).

16

Am 7. Juli 2010 wurde SJ mit Wirkung zum 1. August 2010 Rentenbezugsberechtigte des französischen Staatlichen Erziehungswesens. Am 27. Juli 2011 beantragte sie die Feststellung ihrer Rentenansprüche bei der Deutschen Rentenversicherung Bund (Deutschland), die ihren Antrag an die Carsat übermittelte. Letztere gewährte ihr mit Wirkung zum 1. November 2011 eine Altersrente.

17

Am 18. März 2012 reichte SJ beim Schlichtungsausschuss der Carsat eine Beschwerde ein, die zum einen den Zeitpunkt des Anfalls ihrer Rente und zum anderen den Umstand betraf, dass für die Bestimmung der Anzahl der Beitragszeiten und gleichgestellten Zeiten zur Berechnung der Höhe dieser Rente die in Art. L. 351‑4‑1 des französischen Sozialgesetzbuchs vorgesehene Erhöhung der Versicherungszeit um ein Quartal je Erziehungszeitraum von 30 Monaten im Rahmen der Obergrenze von acht Quartalen nicht berücksichtigt worden war, eine Erhöhung, die Sozialversicherten eröffnet ist, die ein Kind erzogen haben, das einen Anspruch auf die Beihilfe für die Erziehung behinderter Kinder und ihrer Ergänzung gemäß Art. L. 541‑1 dieses Gesetzbuchs begründet (im Folgenden: Erhöhung des Rentensatzes). Da diese Beschwerde zurückgewiesen wurde, erhob SJ Klage vor den französischen Gerichten für allgemeine sozialversicherungsrechtliche Streitigkeiten.

18

Mit Urteil vom 8. April 2015 wies das Tribunal des affaires de sécurité sociale de Strasbourg (Sozialgericht Straßburg, Frankreich) die Klage von SJ ab. Die mit der Berufung befasste Cour d’appel de Colmar (Berufungsgericht Colmar, Frankreich) bestätigte dieses Urteil mit Urteil vom 27. April 2017 hinsichtlich des Zeitpunkts des Anfalls der von der Carsat gewährten Rente. Hinsichtlich der Höhe dieser Rente hob dieses Gericht das Urteil jedoch auf, da es der Auffassung war, dass die nach den französischen Rechtsvorschriften vorgesehene Erhöhung des Rentensatzes zu berücksichtigen sei.

19

Unter Bezugnahme auf Art. 5 der Verordnung Nr. 883/2004 befand die Cour d’appel de Colmar (Berufungsgericht Colmar), dass die deutsche Beihilfe mit der Beihilfe für die Erziehung behinderter Kinder nach Art. L. 541‑1 des französischen Sozialgesetzbuchs (im Folgenden: französische Beihilfe) gleichartig sei, so dass SJ Anspruch auf die Erhöhung des Rentensatzes habe. Das Berufungsgericht leitete daraus ab, dass der auf die Altersrente von SJ anzuwendende Satz aufgrund der Erziehung ihres behinderten Kindes um einen Betrag zu erhöhen sei, der acht Quartalen Erwerbstätigkeit entspreche.

20

Die Carsat legte gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel bei der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) ein, zu dessen Begründung sie geltend gemacht hat, dass das Berufungsgericht Colmar gegen Art. 5 der Verordnung Nr. 883/2004 sowie gegen die Art. L. 351‑4‑1 und L. 541‑1 des französischen Sozialgesetzbuchs verstoßen habe, indem es davon ausgegangen sei, dass die deutsche Beihilfe und die französische Beihilfe gleichartig seien, ohne zuvor geprüft zu haben, ob das behinderte Kind von SJ an einer dauerhaften Behinderung von mindestens 80 % leide, das ihr einen Anspruch auf die Erhöhung des Rentensatzes eröffne. Sie macht geltend, mit dieser Entscheidung führe das Berufungsurteil im Wesentlichen zu einer umgekehrten Diskriminierung der Sozialversicherten, die ausschließlich unter die französische Regelung gefallen seien, gegenüber den Sozialversicherten, die unter die Beihilferegelungen anderer Mitgliedstaaten gefallen seien.

21

In diesem Zusammenhang weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die französische Beihilfe als Familienleistung, die zu einem der Zweige des französischen Systems der sozialen Sicherheit gehöre, vom sachlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 erfasst sei, wohingegen die deutsche Beihilfe unter die Sozialhilfe und Fürsorge im Sinne von Art. 3 Abs. 5 Buchst. a dieser Verordnung zu fallen scheine, die von deren Geltungsbereich ausgeschlossen sei. Zudem werde sie nicht in der von der deutschen Regierung gemäß Art. 9 dieser Verordnung notifizierten Erklärung zu den deutschen Rechtsvorschriften, die vom Geltungsbereich dieser Verordnung umfasst seien, aufgeführt.

22

In diesem Zusammenhang hat die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof), die Zweifel hinsichtlich der Anwendbarkeit der Verordnung unter den Umständen des Ausgangsverfahrens sowie hinsichtlich der Gleichartigkeit der französischen Beihilfe und der deutschen Beihilfe hegt, beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Fällt die deutsche Beihilfe in den sachlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004?

2.

Falls dies bejaht wird: Sind die französische Beihilfe zum einen und die deutsche Beihilfe zum anderen in Anbetracht des Ziels von Art. L. 351‑4‑1 des französischen Sozialgesetzbuchs, die Lasten der Erziehung eines behinderten Kindes für die Bestimmung der den Anspruch auf den Bezug einer Altersrente eröffnenden Versicherungsdauer zu berücksichtigen, gleichartig im Sinne von Art. 5 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

23

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen ist, dass die deutsche Beihilfe eine Leistung im Sinne dieses Art. 3 darstellt und daher in den sachlichen Geltungsbereich der Verordnung fällt.

24

Zur Beantwortung der vorgelegten Frage ist erstens zu prüfen, ob diese Beihilfe eine Leistung der sozialen Sicherheit im Sinne von Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung darstellt.

25

Hierzu ist vorab festzustellen, dass aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervorgeht, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht erklärt hat, dass die bundesgesetzliche Regelung der deutschen Beihilfe in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 falle. Der Gerichtshof hat jedoch bereits entschieden, dass der Umstand, dass ein Mitgliedstaat entgegen den Vorschriften des Art. 9 der Verordnung Nr. 883/2004 nicht erklärt hat, dass ein bestimmtes Gesetz unter diese Verordnung falle, nicht zur Folge hat, dass ein bestimmtes Gesetz automatisch vom sachlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 ausgenommen ist (Urteil vom 25. Juli 2018, A [Hilfe für eine schwerbehinderte Person], C‑679/16, EU:C:2018:601, Rn. 30).

26

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs hängt die Unterscheidung zwischen Leistungen, die vom Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 erfasst sind, und solchen, die von ihm ausgeschlossen sind, nämlich im Wesentlichen von den grundlegenden Merkmalen der jeweiligen Leistung ab, insbesondere von ihrem Zweck und den Voraussetzungen ihrer Gewährung, nicht dagegen davon, ob eine Leistung von den nationalen Rechtsvorschriften als eine Leistung der sozialen Sicherheit eingestuft wird (Urteil vom 14. März 2019, Dreyer, C‑372/18, EU:C:2019:206, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27

Somit kann eine Leistung als Leistung der sozialen Sicherheit betrachtet werden, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich wenn sie zum einen den Begünstigten ohne jede im Ermessen liegende individuelle Prüfung der persönlichen Bedürfnisse aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands gewährt wird und sie sich zum anderen auf eines der in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 ausdrücklich aufgezählten Risiken bezieht (Urteil vom 14. März 2019, Dreyer, C‑372/18, EU:C:2019:206, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung). Angesichts des kumulativen Charakters dieser beiden Voraussetzungen fällt die fragliche Leistung nicht in den Geltungsbereich dieser Verordnung, wenn eine der beiden Voraussetzungen nicht erfüllt ist (Urteil vom 25. Juli 2018, A [Hilfe für eine schwerbehinderte Person], C‑679/16, EU:C:2018:601, Rn. 33).

28

In Bezug auf die erste dieser Voraussetzungen ist darauf hinzuweisen, dass sie erfüllt ist, wenn eine Leistung nach objektiven Kriterien gewährt wird, deren Vorliegen den Anspruch auf diese Leistung begründet, ohne dass die zuständige Behörde sonstige persönliche Verhältnisse berücksichtigen darf. Insoweit hat der Gerichtshof zu Leistungen, die gewährt oder verweigert werden oder deren Betrag unter Berücksichtigung der Höhe der Einkünfte des Empfängers berechnet wird, entschieden, dass die Gewährung dieser Leistungen nicht von der individuellen Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit des Antragstellers abhängt, wenn es sich um ein objektives und gesetzlich festgelegtes Kriterium handelt, dessen Vorliegen den Anspruch auf diese Leistung eröffnet, ohne dass die zuständige Behörde sonstige persönliche Verhältnisse berücksichtigen kann (Urteil vom 14. März 2019, Dreyer, C‑372/18, EU:C:2019:206, Rn. 33 und 34 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

29

Darüber hinaus hat der Gerichtshof klargestellt, dass nur dann davon ausgegangen werden kann, dass diese Voraussetzung nicht erfüllt ist, wenn sich der Ermessenscharakter der Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit des Empfängers einer Leistung durch die zuständige Behörde vor allem auf die Eröffnung des Anspruchs auf diese Leistung bezieht. Diese Erwägungen gelten entsprechend für den individuellen Charakter der Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit des Empfängers einer Leistung durch die zuständige Behörde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. März 2019, Dreyer, C‑372/18, EU:C:2019:206, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass die Gewährung der deutschen Beihilfe nicht von objektiven Voraussetzungen wie insbesondere dem genauen Prozentsatz oder Grad einer Beschädigung oder Behinderung abhängig ist.

31

Des Weiteren steht fest, dass diese Beihilfe nach dem Wortlaut von § 35a des deutschen Sozialgesetzbuchs entsprechend dem persönlichen Bedarf des begünstigten Kindes auf der Grundlage einer individuellen Ermessensprüfung dieses Bedarfs durch die zuständige Behörde gewährt wird.

32

Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass die deutsche Beihilfe die erste in Rn. 27 des vorliegenden Urteils genannte Voraussetzung nicht erfüllt.

33

Folglich stellt diese Beihilfe in Anbetracht der in Rn. 27 angeführten Rechtsprechung keine Leistung der sozialen Sicherheit im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 dar.

34

Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 883/2004 deren Geltungsbereich auf besondere beitragsunabhängige Geldleistungen gemäß Art. 70 der Verordnung erstreckt. Unter diesen Umständen ist zweitens zu prüfen, ob die deutsche Beihilfe eine derartige Leistung darstellt.

35

Insoweit genügt die Feststellung, dass aus dem Wortlaut von Art. 70 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung hervorgeht, dass unter besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen ausschließlich die in Anhang X dieser Verordnung aufgeführten Leistungen verstanden werden. Da die deutsche Beihilfe in diesem Anhang nicht enthalten ist, ist sie keine derartige Leistung.

36

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 3 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen ist, dass die deutsche Beihilfe keine Leistung im Sinne dieses Art. 3 darstellt und daher nicht in den sachlichen Geltungsbereich dieser Verordnung fällt.

Zur zweiten Frage

37

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob im Fall einer Bejahung der ersten Frage Art. 5 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen ist, dass die französische Beihilfe und die deutsche Beihilfe als gleichartig im Sinne dieser Vorschrift anzusehen sind.

38

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass Art. 5 Buchst. a dieser Verordnung nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nur auf Leistungen anwendbar ist, die in den Geltungsbereich der Verordnung fallen (Urteil vom 21. Januar 2016, Vorarlberger Gebietskrankenkasse und Knauer, C‑453/14, EU:C:2016:37, Rn. 32). In Rn. 36 des vorliegenden Urteils ist indessen entschieden worden, dass die deutsche Beihilfe keine Leistung im Sinne von Art. 3 dieser Verordnung darstellt und daher nicht in deren sachlichen Geltungsbereich fällt. Folglich ist Art. 5 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 unter den Umständen des Ausgangsverfahrens nicht anwendbar.

39

Jedoch ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dessen Aufgabe, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Verfahrens zweckdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Es ist nämlich Aufgabe des Gerichtshofs, alle Bestimmungen des Unionsrechts auszulegen, die die nationalen Gerichte benötigen, um die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, auch wenn diese Bestimmungen in den dem Gerichtshof von diesen Gerichten vorgelegten Fragen nicht ausdrücklich genannt sind (Urteil vom 13. Juni 2019, Moro, C‑646/17, EU:C:2019:489, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40

Auch wenn das vorlegende Gericht seine Fragen der Form nach auf die Auslegung bestimmter Vorschriften des Unionsrechts beschränkt hat, hindert dies demnach den Gerichtshof nicht daran, dem Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei seiner Fragestellung darauf Bezug genommen hat. Der Gerichtshof hat insoweit aus dem gesamten von dem vorlegenden Gericht vorgelegten Material, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteil vom 13. Juni 2019, Moro, C‑646/17, EU:C:2019:489, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41

Im vorliegenden Fall betrifft das Ausgangsverfahren die Frage, ob für die Bestimmung, ob eine Person Anspruch auf die in den französischen Rechtsvorschriften vorgesehene Erhöhung des Rentensatzes hat, die Umstände zu berücksichtigen sind, deren Vorliegen die Gewährung der deutschen Beihilfe, d. h. einer von dieser Person als Wanderarbeitnehmer auf der Grundlage der Rechtsvorschriften des Aufnahmestaats bezogenen Beihilfe, begründet hat.

42

Insoweit ist hervorzuheben, dass Art. 5 der Verordnung Nr. 883/2004, gelesen im Licht des neunten Erwägungsgrundes dieser Verordnung, den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsatz der Gleichstellung von Leistungen, Einkünften und Sachverhalten verankert, den der Unionsgesetzgeber in den Text dieser Verordnung einführen wollte, damit dieser Grundsatz unter Beachtung des Inhalts und des Geistes der Gerichtsentscheidungen des Gerichtshofs ausgeformt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Dezember 2019, Bocero Torrico und Bode, C‑398/18 und C‑428/18, EU:C:2019:1050, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43

In diesem Rahmen sieht Art. 5 Buchst. b der Verordnung Nr. 883/2004 vor, dass, sofern nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats der Eintritt bestimmter Sachverhalte oder Ereignisse Rechtswirkungen hat, dieser Mitgliedstaat die in einem anderen Mitgliedstaat eingetretenen entsprechenden Sachverhalte oder Ereignisse berücksichtigt, als ob sie im eigenen Hoheitsgebiet eingetreten wären.

44

Demnach ist die zweite Frage, um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, die ihm die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits ermöglicht, dahin zu verstehen, dass sie darauf abzielt, ob der Grundsatz der Gleichstellung von Sachverhalten, der in Art. 5 Buchst. b dieser Verordnung als besondere Ausprägung des allgemeinen Grundsatzes der Nichtdiskriminierung verankert ist, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens anwendbar ist.

45

Für die Feststellung, ob dieser Grundsatz im vorliegenden Fall zur Anwendung gelangt, ist die Erfüllung zweier Voraussetzungen zu prüfen, nämlich zum einen, ob die in Art. L. 351‑4‑1 des französischen Sozialgesetzbuchs vorgesehene Erhöhung des Rentensatzes dem Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 unterfällt, und zum anderen, ob nach dieser nationalen Vorschrift bestimmte Sachverhalte oder Ereignisse im Sinne von Art. 5 Buchst. b der Verordnung Rechtswirkungen haben.

46

In Bezug auf die erste dieser Voraussetzungen ist zu konstatieren, dass in Anbetracht der in Rn. 27 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung die Erhöhung des Rentensatzes als Leistung bei Alter im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. d der Verordnung in deren materiellen Geltungsbereich fallen kann.

47

Denn zum einen wird diese Erhöhung den Begünstigten ohne jede im Ermessen liegende individuelle Prüfung der persönlichen Bedürfnisse aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands, nämlich der Erziehung eines behinderten Kindes, das einen Anspruch auf die französische Beihilfe begründet, gewährt.

48

Zum anderen soll, wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen im Wesentlichen dargelegt hat, die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Leistung die Nachteile in der Erwerbstätigkeit ausgleichen, die Personen, die ein schwer behindertes Kind erzogen haben, erlitten haben könnten, indem ihnen eine zur Dauer der Zeit der Erziehung des behinderten Kindes anteilige Erhöhung der Beitragszeiten gewährt wird, die sich in einer Erhöhung der diesen Personen gezahlten Rente widerspiegelt. Da sie den Lebensunterhalt für Personen sicherstellen soll, die bei Erreichen eines bestimmten Alters ihre Beschäftigung aufgeben und nicht mehr verpflichtet sind, sich der Arbeitsverwaltung zur Verfügung zu stellen, bezieht sich diese Leistung somit auf das durch die Leistungen bei Alter im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 883/2004 abgedeckte Risiko (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. September 2015, Kommission/Slowakei, C‑361/13, EU:C:2015:601, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49

In Bezug auf die zweite der in Rn. 45 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen ist darauf hinzuweisen, dass Art. L. 351‑4‑1 des französischen Sozialgesetzbuchs für die Gewährung der Erhöhung des Rentensatzes nicht voraussetzt, dass zuvor die französische Beihilfe bezogen wurde, sondern nur verlangt, dass die in Art. L. 541‑1 dieses Gesetzbuchs festgelegten Voraussetzungen, die den Anspruch auf diese Beihilfe begründen, erfüllt sind. Insbesondere muss nach der letzteren Vorschrift, damit die ein behindertes Kind erziehenden Sozialversicherten in den Genuss dieser Erhöhung gelangen können, die dauerhafte Behinderung des Kindes mindestens einen bestimmten, in Art. R. 541‑1 des französischen Sozialgesetzbuchs auf 80 % festgesetzten Prozentsatz ausmachen.

50

Daher wird die Erhöhung des Rentensatzes auf der Grundlage des Eintritts eines Sachverhalts im Sinne von Art. 5 Buchst. b der Verordnung Nr. 883/2004 gewährt, nämlich der dauerhaften Behinderung des Kindes zu mindestens einem bestimmten Prozentsatz. Mithin ist im vorliegenden Fall auch die zweite Voraussetzung erfüllt.

51

Daraus folgt, dass der in Art. 5 Buchst. b verankerte Grundsatz der Gleichstellung von Sachverhalten unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens anwendbar ist.

52

Was die Anwendungsmodalitäten dieses Grundsatzes angeht, haben die zuständigen französischen Behörden zu prüfen, ob im vorliegenden Fall der Eintritt des nach Art. 5 Buchst. b der Verordnung Nr. 883/2004 geforderten Sachverhalts nachgewiesen ist.

53

Insoweit müssen die französischen Behörden in Deutschland eingetretene vergleichbare Sachverhalte berücksichtigen und dürfen sich bei der Beurteilung der dauerhaften Behinderung des betroffenen Kindes nicht allein auf die Kriterien beschränken, die in Frankreich hierfür im Leitfaden für die Gewichtung gemäß Art. R. 541‑1 des französischen Sozialgesetzbuchs vorgesehen sind.

54

Daher können die Behörden es nicht ablehnen, bei der Feststellung, ob der Prozentsatz der dauerhaften Behinderung des Kindes, der vom französischen Sozialgesetzbuch für die Begründung des Anspruchs auf die Erhöhung des Rentensatzes gefordert wird, erreicht ist, in Deutschland eingetretene vergleichbare Sachverhalte zu berücksichtigen, die durch jedes Beweismittel, insbesondere medizinische Untersuchungsberichte, Bescheinigungen oder auch Verschreibungen von Pflegeleistungen oder Arzneimitteln, nachgewiesen werden können.

55

Zudem müssen diese Behörden im Rahmen einer solchen Prüfung auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten, indem sie gemäß dem zwölften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 883/2004 insbesondere sicherstellen, dass der Grundsatz der Gleichstellung von Sachverhalten nicht zu sachlich nicht zu rechtfertigenden Ergebnissen führt.

56

Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 5 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen ist, dass

die französische Beihilfe und die deutsche Beihilfe nicht als gleichartige Leistungen im Sinne von Art. 5 Buchst. a angesehen werden können;

der in Art. 5 Buchst. b verankerte Grundsatz der Gleichstellung von Sachverhalten unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anwendbar ist. Es ist daher Sache der zuständigen französischen Behörden, festzustellen, ob im vorliegenden Fall der Eintritt des nach dieser Vorschrift erforderlichen Sachverhalts nachgewiesen ist. Hierfür müssen die Behörden in Deutschland eingetretene vergleichbare Sachverhalte berücksichtigen, als ob diese in ihrem eigenen Hoheitsgebiet eingetreten wären.

Kosten

57

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 3 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung (EG) Nr. 988/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die in § 35a des Achten Buches Sozialgesetzbuch vorgesehene Eingliederungsbeihilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche keine Leistung im Sinne dieses Art. 3 darstellt und daher nicht in den sachlichen Geltungsbereich dieser Verordnung fällt.

 

2.

Art. 5 der Verordnung Nr. 883/2004 in der durch die Verordnung Nr. 988/2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass

die in Art. L. 541‑1 des französischen Sozialgesetzbuchs vorgesehene Beihilfe für die Erziehung behinderter Kinder und die in § 35a des Achten Buches des deutschen Sozialgesetzbuchs vorgesehene Eingliederungsbeihilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche nicht als gleichartige Leistungen im Sinne von Art. 5 Buchst. a dieser Verordnung angesehen werden können;

der in Art. 5 Buchst. b verankerte Grundsatz der Gleichstellung von Sachverhalten unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anwendbar ist. Es ist daher Sache der zuständigen französischen Behörden, festzustellen, ob im vorliegenden Fall der Eintritt des im Sinne dieser Vorschrift erforderlichen Sachverhalts nachgewiesen ist. Hierfür müssen die Behörden in Deutschland eingetretene vergleichbare Sachverhalte berücksichtigen, als ob diese in ihrem eigenen Hoheitsgebiet eingetreten wären.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.

Top