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Document 62019CJ0459

Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 17. März 2021.
The Commissioners for Her Majesty's Revenue & Customs gegen Wellcome Trust Ltd.
Vorabentscheidungsersuchen des Upper Tribunal (Tax and Chancery Chamber).
Vorlage zur Vorabentscheidung – Harmonisierung des Steuerrechts – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 43 und 44 – Ort einer Dienstleistung an einen Steuerpflichtigen, der als solcher handelt – Ort der Dienstleistung bei Vermögensverwaltungsdienstleistungen, die eine gemeinnützige Einrichtung für ihre nicht wirtschaftliche Geschäftstätigkeit von außerhalb der Europäischen Union ansässigen Dienstleistungserbringern empfängt.
Rechtssache C-459/19.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2021:209

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

17. März 2021 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Harmonisierung des Steuerrechts – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 43 und 44 – Ort einer Dienstleistung an einen Steuerpflichtigen, der als solcher handelt – Ort der Dienstleistung bei Vermögensverwaltungsdienstleistungen, die eine gemeinnützige Einrichtung für ihre nicht wirtschaftliche Geschäftstätigkeit von außerhalb der Europäischen Union ansässigen Dienstleistungserbringern empfängt“

In der Rechtssache C‑459/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Upper Tribunal (Tax and Chancery Chamber) (Obergericht [Steuer- und Chancerykammer], Vereinigtes Königreich), mit Entscheidung vom 13. Juni 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Juni 2019, in dem Verfahren

The Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs

gegen

Wellcome Trust Ltd

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter M. Ilešič, E. Juhász (Berichterstatter), C. Lycourgos und I. Jarukaitis,

Generalanwalt: G. Hogan,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Wellcome Trust Ltd, vertreten durch F. Mitchell, Barrister, sowie P. Nathwani, C. Millard und H. Grantham, Solicitors,

der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch Z. Lavery als Bevollmächtigte im Beistand von E. Mitrophanous, Barrister,

von Irland, vertreten durch M. Browne, J. Quaney und A. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von N. Travers, SC,

der spanischen Regierung, vertreten durch S. Jiménez García als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Lyal und A. Armenia als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. Juni 2020

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 44 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2008/8/EG des Rates vom 12. Februar 2008 (ABl. 2008, L 44, S. 11) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen The Commissioners for Her Majesty’s Revenue & Customs (Steuer- und Zollverwaltung, Vereinigtes Königreich) und der Wellcome Trust Ltd (im Folgenden: WTL) wegen Erstattung der Mehrwertsteuer, die für die von außerhalb der Union ansässigen Vermögensverwaltern erbrachten Dienstleistungen entrichtet wurde.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2008/8

3

Der vierte Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/8 lautet:

„Bei Dienstleistungen an Steuerpflichtige sollte die Grundregel für die Bestimmung des Ortes der Dienstleistung auf den Ort abstellen, an dem der Empfänger ansässig ist, und nicht auf den, an dem der Dienstleistungserbringer ansässig ist. Im Hinblick auf die Regeln zur Bestimmung des Ortes der Dienstleistung und um die Belastung für die wirtschaftliche Tätigkeit möglichst gering zu halten, sollten Steuerpflichtige, die auch nichtsteuerbaren Tätigkeiten nachgehen, für alle an sie erbrachten Dienstleistungen als Steuerpflichtige gelten. Gleichermaßen sollten nichtsteuerpflichtige juristische Personen, die für die Zwecke der Mehrwertsteuer erfasst sind, als Steuerpflichtige gelten. Diese Regelungen sollten im Einklang mit den allgemeinen Regeln nicht auf Dienstleistungen Anwendung finden, die von Steuerpflichtigen für ihre persönliche Verwendung oder die Verwendung durch ihr Personal empfangen werden.“

Mehrwertsteuerrichtlinie

4

Art. 2 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:

c)

Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt;

…“

5

Art. 9 Abs. 1 in Titel III („Steuerpflichtiger“) dieser Richtlinie bestimmt:

„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.

Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.“

6

Titel V („Ort des steuerbaren Umsatzes“) der Mehrwertsteuerrichtlinie enthält u. a. ein Kapitel 3 („Ort der Dienstleistung“), das seinerseits in drei Abschnitte unterteilt ist.

7

Abschnitt 1 („Begriffsbestimmungen“) enthält einen einzigen Artikel, Art. 43 der Mehrwertsteuerrichtlinie, der wie folgt lautet:

„Für die Zwecke der Anwendung der Regeln für die Bestimmung des Ortes der Dienstleistung gilt

1.

ein Steuerpflichtiger, der auch Tätigkeiten ausführt oder Umsätze bewirkt, die nicht als steuerbare Lieferungen von Gegenständen oder Dienstleistungen im Sinne des Artikels 2 Absatz 1 angesehen werden, in Bezug auf alle an ihn erbrachten Dienstleistungen als Steuerpflichtiger;

2.

eine nicht steuerpflichtige juristische Person mit Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer als Steuerpflichtiger.“

8

Abschnitt 2 („Allgemeine Bestimmungen“) umfasst die Art. 44 und 45 der Mehrwertsteuerrichtlinie.

9

Art. 44 dieser Richtlinie lautet:

„Als Ort einer Dienstleistung an einen Steuerpflichtigen, der als solcher handelt, gilt der Ort, an dem dieser Steuerpflichtige den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat. Werden diese Dienstleistungen jedoch an eine feste Niederlassung des Steuerpflichtigen, die an einem anderen Ort als dem des Sitzes seiner wirtschaftlichen Tätigkeit gelegen ist, erbracht, so gilt als Ort dieser Dienstleistungen der Sitz der festen Niederlassung. In Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung gilt als Ort der Dienstleistung der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthaltsort des steuerpflichtigen Dienstleistungsempfängers.“

10

Art. 45 der Richtlinie bestimmt:

„Als Ort einer Dienstleistung an einen Nichtsteuerpflichtigen gilt der Ort, an dem der Dienstleistungserbringer den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat. Werden diese Dienstleistungen jedoch von der festen Niederlassung des Dienstleistungserbringers, die an einem anderen Ort als dem des Sitzes seiner wirtschaftlichen Tätigkeit gelegen ist, aus erbracht, so gilt als Ort dieser Dienstleistungen der Sitz der festen Niederlassung. In Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung gilt als Ort der Dienstleistung der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthaltsort des Dienstleistungserbringers.“

11

Abschnitt 3 („Besondere Bestimmungen“) umfasst die Art. 46 bis 59a der Mehrwertsteuerrichtlinie, die eine Reihe besonderer Anknüpfungspunkte vorsehen.

Durchführungsverordnung

12

Der 19. Erwägungsgrund der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 des Rates vom 15. März 2011 zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 2006/112 (ABl. 2011, L 77, S. 1) lautet:

„Es sollte klargestellt werden, dass dann, wenn für einen Steuerpflichtigen erbrachte Dienstleistungen für den privaten Bedarf, einschließlich für den Bedarf des Personals des Dienstleistungsempfängers, bestimmt sind, dieser Steuerpflichtige nicht als in seiner Eigenschaft als Steuerpflichtiger handelnd eingestuft werden kann. Zur Entscheidung, ob der Dienstleistungsempfänger als Steuerpflichtiger handelt oder nicht, ist die Mitteilung seiner Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer an den Dienstleistungserbringer ausreichend, um ihm die Eigenschaft als Steuerpflichtiger zuzuerkennen, es sei denn, dem Dienstleistungserbringer liegen gegenteilige Informationen vor. Es sollte außerdem sichergestellt werden, dass eine Dienstleistung, die sowohl für Unternehmenszwecke erworben als auch privat genutzt wird, nur an einem einzigen Ort besteuert wird.“

13

Kapitel V („Ort des steuerbaren Umsatzes“) der Durchführungsverordnung enthält u. a. einen Abschnitt 4 („Ort der Dienstleistung“ [Artikel 43 bis 59 der (Mehrwertsteuerrichtlinie)]), der seinerseits in elf Unterabschnitte unterteilt ist.

14

Der Unterabschnitt 2 („Eigenschaft des Dienstleistungsempfängers“) umfasst einzig Art. 19 der Durchführungsverordnung, der wie folgt lautet:

„Für die Zwecke der Anwendung der Bestimmungen über den Ort der Dienstleistung nach Artikel 44 und 45 der [Mehrwertsteuerrichtlinie] gilt ein Steuerpflichtiger oder eine als Steuerpflichtiger geltende nichtsteuerpflichtige juristische Person, der/die Dienstleistungen ausschließlich zum privaten Gebrauch, einschließlich zum Gebrauch durch sein/ihr Personal[,] empfängt, als nicht steuerpflichtig.

Sofern dem Dienstleistungserbringer keine gegenteiligen Informationen – wie etwa die Art der erbrachten Dienstleistungen – vorliegen, kann er davon ausgehen, dass es sich um Dienstleistungen für die unternehmerischen Zwecke des Dienstleistungsempfängers handelt, wenn Letzterer ihm für diesen Umsatz seine individuelle Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer mitgeteilt hat.

Ist ein und dieselbe Dienstleistung sowohl zum privaten Gebrauch, einschließlich zum Gebrauch durch das Personal, als auch für die unternehmerischen Zwecke des Dienstleistungsempfängers bestimmt, so fällt diese Dienstleistung ausschließlich unter Artikel 44 der [Mehrwertsteuerrichtlinie], sofern keine missbräuchlichen Praktiken vorliegen.“

Recht des Vereinigten Königreichs

15

Die einschlägigen Bestimmungen über den Ort der Dienstleistung wurden in Section 7A des Value Added Tax Act 1994 (Mehrwertsteuergesetz von 1994) in das Recht des Vereinigten Königreichs umgesetzt, die bestimmt:

„Ort der Dienstleistung

(1) Diese Section regelt, für die Zwecke dieses Gesetzes, die Bestimmung des Landes, in dem Dienstleistungen erbracht werden.

(2) Eine Dienstleistung gilt als erbracht,

(a)

wenn der Dienstleistungsempfänger ein relevanter Gewerbetreibender ist, in dem Land, in dem der Dienstleistungsempfänger ansässig ist, und

(b)

andernfalls in dem Land, in dem der Dienstleistungserbringer ansässig ist.

(4) Für die Zwecke dieses Gesetzes ist eine Person ein relevanter Gewerbetreibender in Bezug auf eine Erbringung von Dienstleistungen, wenn sie

(a)

ein Steuerpflichtiger im Sinne von Art. 9 der [Mehrwertsteuerrichtlinie] ist,

(b)

nach diesem Gesetz registriert ist,

(c)

nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats als des Vereinigten Königreichs eine Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer erhalten hat oder

(d)

nach einem Act of Tynwald (Gesetz der Isle of Man) für die Zwecke einer durch einen oder aufgrund eines Act of Tynwald auferlegten Steuer registriert ist, die der Mehrwertsteuer entspricht,

und die Dienstleistungen von dieser Person nicht ausschließlich für private Zwecke empfangen werden.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

16

WTL ist die alleinige Treuhänderin einer gemeinnützigen Stiftung, Wellcome Trust, die Zuschüsse für die medizinische Forschung gewährt. WTL erzielt Einnahmen aus Kapitalanlagen und übt auch einige untergeordnete Tätigkeiten wie Verkauf von Gegenständen, Gastronomiebetrieb und Vermietung von Objekten aus, für die sie als mehrwertsteuerpflichtig registriert ist. Die Kapitalerträge, die den größten Teil der gewährten Zuschüsse darstellen, stammen überwiegend aus Auslandsinvestitionen, für die WTL Vermögensverwaltungsdienstleistungen von innerhalb und außerhalb der Europäischen Union in Anspruch nimmt.

17

Im Urteil vom 20. Juni 1996, Wellcome Trust (C‑155/94, EU:C:1996:243), hat der Gerichtshof entschieden, dass der Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeiten im Sinne von Art. 4 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1) – später Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie – eine Tätigkeit, die darin besteht, dass ein Treuhänder im Rahmen der Verwaltung des Vermögens eines gemeinnützigen Trusts Aktien und andere Wertpapiere kauft und verkauft, nicht einschließt. Infolgedessen wurde WTL die Erstattung der Vorsteuer hinsichtlich der Gesamtheit der Kosten, die im Zusammenhang mit ihrem Portfolio außerhalb der Europäischen Union entstanden sind, verweigert.

18

Nach Ansicht des Upper Tribunal (Tax and Chancery Chamber) (Obergericht [Steuer- und Chancerykammer], Vereinigtes Königreich), dem vorlegenden Gericht, steht fest, dass WTL ein Steuerpflichtiger im Sinne der Art. 2 und 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie ist, dass die Tätigkeit, die im Kauf und Verkauf von Aktien und anderen Wertpapieren durch WTL im Rahmen der Vermögensverwaltung des Wellcome Trust besteht, derjenigen entspricht, über die im Urteil Wellcome Trust entschieden wurde, und dass diese nicht wirtschaftliche Tätigkeit eine geschäftliche und keine private Tätigkeit ist.

19

Es führt weiter aus, dass WTL die bei den außerhalb der Union ansässigen Dienstleistungserbringern erworbenen Dienstleistungen ausschließlich für ihre geschäftliche Tätigkeit in Anspruch genommen habe und dass sie diese Dienstleistungen nicht für steuerbare Umsätze im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Anspruch genommen habe. WTL müsse nämlich den gemeinnützigen Status des Trusts berücksichtigen, und es sei ihr nicht gestattet, einer wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen.

20

Seit dem Jahr 2010 rechne WTL die Mehrwertsteuer nach dem Verfahren der Umkehrung der Steuerschuldnerschaft gemäß Art. 196 der Mehrwertsteuerrichtlinie auf die von außerhalb der Union ansässigen Vermögensverwaltern erbrachten Dienstleistungen in der Annahme ab, dass der Ort der Erbringung dieser Dienstleistungen das Vereinigte Königreich sei.

21

Im Zeitraum von April 2016 bis Juni 2017 stellte WTL Erstattungsanträge mit der Begründung, sie habe ihrer Ansicht nach die Vorsteuer für diese Dienstleistungen zu hoch angesetzt. WTL machte im Wesentlichen geltend, dass sie zwar ein Steuerpflichtiger nach den Art. 2 und 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie sei, aber kein Steuerpflichtiger, „der als solcher handelt“ im Sinne von Art. 44 dieser Richtlinie.

22

Mit Urteil vom 10. Oktober 2018 folgte das First-tier Tribunal (Tax Chamber) (Gericht erster Instanz [Kammer für Steuersachen], Vereinigtes Königreich) dem Vorbringen von WTL. Nachdem dieses Gericht darauf hingewiesen hatte, dass es nicht zwingend sei, dass Dienstleistungen entweder unter Art. 44 oder unter Art. 45 der Mehrwertsteuerrichtlinie fielen, stellte es fest, dass die nationalen Bestimmungen, mit denen Art. 44 dieser Richtlinie umgesetzt worden sei, die das Vereinigte Königreich als „Ort der Dienstleistung“ für Steuerpflichtige, die in einer geschäftlichen Eigenschaft handelten, identifiziert hätten, nicht mit Art. 44 der Richtlinie vereinbar seien.

23

Die Steuer- und Zollverwaltung legte beim vorlegenden Gericht Berufung ein.

24

Vor diesem Gericht machte sie geltend, dass zum einen Art. 44 der Mehrwertsteuerrichtlinie auf der Grundlage des Wortlauts und des Sinns und Zwecks dieser Bestimmung und damit im Zusammenhang stehender Bestimmungen anwendbar sei und zum anderen aus Gründen der Rechtssicherheit der Ort der Dienstleistung bestimmbar sein müsse. Da im vorliegenden Fall aber nicht geltend gemacht worden sei, dass die Dienstleistungen in den Anwendungsbereich von Art. 45 der Mehrwertsteuerrichtlinie fielen oder dass eine der besonderen, in den Art. 46 bis 59a dieser Richtlinie enthaltenen Regelungen Anwendung finde, folge daraus, dass Art. 44 Anwendung finden müsse.

25

Da feststeht, dass WTL kein „Steuerpflichtiger, der als solcher handelt“, im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie ist, wenn sie ihre Anlagetätigkeiten ausübt, kann sie ihrer Ansicht nach auch kein Steuerpflichtiger, „der als solcher handelt“, im Sinne von Art. 44 dieser Richtlinie sein.

26

Das vorlegende Gericht führt aus, die Entscheidung des Rechtsstreits hänge davon ab, welchen Ort man als Ort der Dienstleistung bei Vermögensverwaltungsdienstleistungen heranziehe, die WTL von den außerhalb der Union ansässigen Dienstleistungserbringern empfangen habe. Um den Ort dieser Dienstleistungen bestimmen zu können, müsse geklärt werden, ob WTL als Steuerpflichtiger, „der als solcher handelt“, im Sinne von Art. 44 der Mehrwertsteuerrichtlinie anzusehen sei.

27

Unter diesen Umständen hat das Upper Tribunal (Tax and Chancery Chamber) (Obergericht [Steuer und Chancerykammer]) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 44 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass ein Steuerpflichtiger, der eine nicht wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, die in dem An- und Verkauf von Aktien und anderen Wertpapieren im Rahmen der Verwaltung des Vermögens eines gemeinnützen Trusts besteht, als ein „Steuerpflichtiger, der als solcher handelt“, anzusehen ist, wenn er von einer Person von außerhalb der Union ausschließlich für Zwecke dieser Tätigkeit Vermögensverwaltungsdienstleistungen empfängt?

2.

Für den Fall, dass Frage 1 zu verneinen ist und die Art. 46 bis 49 der Richtlinie unanwendbar sind: Ist Art. 45 der Richtlinie auf die Dienstleistung anwendbar, oder finden weder Art. 44 noch Art. 45 auf die Dienstleistung Anwendung?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

28

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 44 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass, wenn ein Steuerpflichtiger, der gewerbsmäßig eine nicht wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, Dienstleistungen für die Zwecke dieser nicht wirtschaftlichen Tätigkeit erwirbt, diese Dienstleistungen im Sinne dieses Artikels als an den Steuerpflichtigen, der „als solcher handelt“, erbracht anzusehen sind.

29

Wie sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt, betreffen die Fragen des vorlegenden Gerichts für die Zwecke der Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits das gemeinsame Mehrwertsteuersystem nur unter dem Aspekt der Bestimmung des Ortes der Dienstleistung. Insoweit geht aus Art. 44 hervor, dass als Ort einer Dienstleistung an einen Steuerpflichtigen, der als solcher handelt, grundsätzlich der Ort gilt, an dem dieser Steuerpflichtige den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat.

30

Es ist darauf hinzuweisen, dass die Voraussetzung in Art. 44 der Mehrwertsteuerrichtlinie, wonach der Steuerpflichtige als solcher handeln muss, auch in Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie enthalten ist.

31

Insoweit geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass ein Steuerpflichtiger für die Anwendung der letztgenannten Bestimmung als solcher handelt, wenn er für die Zwecke seiner wirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie handelt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. März 2001, Bakcsi,C‑415/98, EU:C:2001:136, Rn. 24 und 29, sowie vom 22. März 2012, Klub,C‑153/11, EU:C:2012:163, Rn. 40).

32

Was die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Tätigkeit betrifft, die darin besteht, dass WTL als Treuhänder im Rahmen der Verwaltung des Vermögens ihres gemeinnützigen Trusts Aktien und andere Wertpapiere kauft und verkauft, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass der Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie eine Tätigkeit dieser Art nicht einschließt (vgl. entsprechend Urteil vom 20. Juni 1996, Wellcome Trust,C‑155/94, EU:C:1996:243, Rn. 41).

33

Daher ist WTL im Rahmen der Ausübung einer solchen Tätigkeit kein „Steuerpflichtiger, der als solcher handelt“, im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c dieser Richtlinie.

34

Entgegen dem Vorbringen von WTL folgt daraus jedoch nicht zwangsläufig, dass sie auch nicht als ein „Steuerpflichtiger, der als solcher handelt“, im Sinne von Art. 44 dieser Richtlinie angesehen werden kann, da sich dieser Artikel, wie in Rn. 29 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, darauf beschränkt, vorzusehen, dass der Ort, an dem die Dienstleistungen an einen Steuerpflichtigen erbracht werden, der als solcher handelt, grundsätzlich dem Sitz der wirtschaftlichen Tätigkeit dieses Steuerpflichtigen entspricht.

35

Zwar müssen in Anbetracht der Erfordernisse der Einheit und Kohärenz der Unionsrechtsordnung nämlich die für in demselben Bereich erlassene Rechtshandlungen verwendeten Begriffe dieselbe Bedeutung haben, doch ist dies nicht der Fall, wenn der Unionsgesetzgeber einen anderen Willen zum Ausdruck gebracht hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. September 2016, Landkreis Potsdam-Mittelmark,C‑400/15, EU:C:2016:687, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36

Aus Art. 43 der Mehrwertsteuerrichtlinie ergibt sich jedoch, dass der Unionsgesetzgeber dem Ausdruck „Steuerpflichtiger, der als solcher handelt“ im Sinne von Art. 44 der Richtlinie eine andere Bedeutung beimessen wollte, als ihm nach Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie zukommt.

37

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 43 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie speziell bestimmt, dass für die Zwecke der Anwendung der Regeln für die Bestimmung des Ortes der Dienstleistung ein Steuerpflichtiger, der sowohl steuerbare Dienstleistungen im Sinne von Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie als auch Tätigkeiten erbringt, „die nicht als steuerbare Dienstleistungen im Sinne [dieser Bestimmung] angesehen werden, in Bezug auf alle an ihn erbrachten Dienstleistungen als Steuerpflichtiger [gilt]“. Der Unionsgesetzgeber hat daher in Art. 43 Nr. 1 eine weite und vom Begriff des Steuerpflichtigen abweichende Definition nur für die Zwecke der Anwendung der Regeln für die Bestimmung des Ortes der Dienstleistung vorgesehen.

38

Daraus folgt, dass im Licht von Art. 43 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie ein Steuerpflichtiger selbst dann im Sinne von Art. 44 dieser Richtlinie als solcher handeln kann, wenn er für Zwecke seiner nicht wirtschaftlichen Tätigkeiten handelt.

39

Allerdings darf eine Auslegung der Art. 43 und 44 der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht dazu führen, dass Unternehmen, die im Sinne von Art. 43 Nr. 1 dieser Richtlinie steuerpflichtig sind und denen Dienstleistungen erbracht werden, stets als als solche handelnd angesehen werden.

40

Es ist nämlich darauf hinzuweisen, dass ein Steuerpflichtiger, der einen Umsatz für private Zwecke ausführt, nicht als Steuerpflichtiger im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie handelt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juli 2015, Trgovina Prizma,C‑331/14, EU:C:2015:456, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung). Außerdem folgt im Rahmen der Systematik des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems die Unterscheidung zwischen wirtschaftlichen und nicht wirtschaftlichen Tätigkeiten anderen Kriterien als die Unterscheidung zwischen einer unternehmerischen Verwendung und einer unternehmensfremden, nämlich privaten, Verwendung (Urteil vom 15. September 2016, Landkreis Potsdam-Mittelmark,C‑400/15, EU:C:2016:687, Rn. 32).

41

In Anbetracht des abweichenden Gehalts des Begriffs „Steuerpflichtiger, der als solcher handelt“ im Sinne von Art. 44 der Mehrwertsteuerrichtlinie kann daher der Umstand, dass ein Steuerpflichtiger, der nicht für Zwecke seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten handelt, allein für die Zwecke der Anwendung dieses Artikels als „Steuerpflichtiger, der als solcher handelt“, anzusehen ist, nicht dazu führen, dass dieser Steuerpflichtige auch dann noch in den Anwendungsbereich dieses Artikels fällt, wenn er nicht nur für Zwecke seiner nicht wirtschaftlichen, sondern darüber hinaus auch nicht geschäftlichen Tätigkeiten, insbesondere für private Zwecke, handelt.

42

Folglich ist für die Anwendung von Art. 44 der Mehrwertsteuerrichtlinie klarzustellen, dass der Steuerpflichtige als solcher in Bezug auf seine nicht wirtschaftlichen Tätigkeiten handelt, soweit diese gewerbsmäßig ausgeübt werden.

43

Wie sich aus den Angaben des vorlegenden Gerichts ergibt, steht im vorliegenden Fall fest, dass die von WTL ausgeübte nicht wirtschaftliche Tätigkeit, die im Kauf und Verkauf von Aktien und anderen Wertpapieren im Rahmen der Verwaltung des Vermögens von Wellcome Trust als Treuhänder besteht, eine Geschäftstätigkeit und keine private Tätigkeit ist und dass die Vermögensverwaltungsdienstleistungen an WTL von einer außerhalb der Union ansässigen Person ausschließlich für die Zwecke dieser Geschäftstätigkeit erbracht werden.

44

Diese Auslegung wird durch den normativen Kontext des Art. 44 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestätigt. Erstens heißt es im vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/8 insbesondere, dass bei Dienstleistungen an Steuerpflichtige die Grundregel für die Bestimmung des Ortes der Dienstleistung auf den Ort abstellen sollte, an dem der Empfänger ansässig ist, und dass Steuerpflichtige, die auch nicht steuerbaren Tätigkeiten nachgehen, für alle an sie erbrachten Dienstleistungen als Steuerpflichtige gelten sollten. Aus dem letzten Satz dieses vierten Erwägungsgrundes geht jedoch hervor, dass die Regelungen zur Durchführung dieser allgemeinen Regeln nicht auf Dienstleistungen Anwendung finden sollten, die von Steuerpflichtigen für ihre persönliche Verwendung oder die Verwendung durch ihr Personal empfangen werden.

45

Zweitens heißt es im 19. Erwägungsgrund der Durchführungsverordnung, dass „… klargestellt werden [sollte], dass dann, wenn für einen Steuerpflichtigen erbrachte Dienstleistungen für den privaten Bedarf, einschließlich für den Bedarf des Personals des Dienstleistungsempfängers, bestimmt sind, dieser Steuerpflichtige nicht als in seiner Eigenschaft als Steuerpflichtiger handelnd eingestuft werden kann“. Im gleichen Sinne bestimmt Art. 19 Abs. 1 dieser Durchführungsverordnung, dass „[f]ür die Zwecke der Anwendung der Bestimmungen über den Ort der Dienstleistung nach Artikel 44 und 45 der [Mehrwertsteuerrichtlinie] … ein Steuerpflichtiger oder eine als Steuerpflichtiger geltende nichtsteuerpflichtige juristische Person, der/die Dienstleistungen ausschließlich zum privaten Gebrauch, einschließlich zum Gebrauch durch sein/ihr Personal[,] empfängt, als nicht steuerpflichtig [gilt]“.

46

Folglich ist davon auszugehen, dass, wenn ein Steuerpflichtiger, der eine nicht wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, Dienstleistungen für die Zwecke dieser nicht wirtschaftlichen Tätigkeit erwirbt, diese Dienstleistungen im Sinne von Art. 44 der Mehrwertsteuerrichtlinie an diesen Steuerpflichtigen, der als solcher handelt, erbracht werden, mit Ausnahme der Dienstleistungen, die zum privaten Gebrauch des Steuerpflichtigen oder seines Personals bestimmt sind.

47

Insoweit ist das Vorbringen von WTL zum Grundsatz der Gleichbehandlung, mit dem diese Auslegung beanstandet werden soll, zurückzuweisen.

48

Zwar hat der Gerichtshof entschieden, dass sich ein Treuhänder, der sich in einer Situation wie WTL befindet, im Licht des Art. 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie wie ein privater Anleger auf die Verwaltung eines Wertpapiervermögens beschränkt (vgl. entsprechend Urteil vom 20. Juni 1996, Wellcome Trust,C‑155/94, EU:C:1996:243, Rn. 36).

49

Aus der Tatsache, dass WTL mit der Verwaltung eines Wertpapiervermögens einem privaten Anleger entsprechende Tätigkeiten ausübt, ergibt sich jedoch nicht, dass WTL diese Tätigkeiten privat ausübt.

50

Wie nämlich aus Rn. 43 des vorliegenden Urteils hervorgeht, ist die Situation von WTL, da ihre nicht wirtschaftliche Tätigkeit keine private Tätigkeit ist, nicht mit der von Personen vergleichbar, die Dienstleistungen nur für ihre persönliche Verwendung oder die Verwendung durch ihr Personal erwerben. Im Unterschied zu Letzteren unterliegt WTL als Steuerpflichtiger dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem.

51

Nach alledem ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 44 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass, wenn ein Steuerpflichtiger, der gewerbsmäßig eine nicht wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, Dienstleistungen für die Zwecke dieser nicht wirtschaftlichen Tätigkeit erwirbt, diese Dienstleistungen im Sinne dieses Artikels als an diesen Steuerpflichtigen, „der als solcher handelt“, erbracht anzusehen sind.

Zur zweiten Frage

52

In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage des vorlegenden Gerichts nicht zu beantworten.

Kosten

53

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 44 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2008/8/EG des Rates vom 12. Februar 2008 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass, wenn ein Steuerpflichtiger, der gewerbsmäßig eine nicht wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, Dienstleistungen für die Zwecke dieser nicht wirtschaftlichen Tätigkeit erwirbt, diese Dienstleistungen im Sinne dieses Artikels als an diesen Steuerpflichtigen, „der als solcher handelt“, erbracht anzusehen sind.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Englisch.

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