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Document 62020CJ0328

Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 16. Juni 2022.
Europäische Kommission gegen Republik Österreich.
Vertragsverletzung – Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Art. 4, 7 und 67 – Freizügigkeit der Arbeitnehmer – Verordnung (EU) Nr. 492/2011 – Art. 7 – Gleichbehandlung – Familienleistungen – Soziale und steuerliche Vergünstigungen – Anpassung der Höhe an das Preisniveau im Wohnstaat der Kinder.
Rechtssache C-328/20.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2022:468

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

16. Juni 2022 ( *1 )

[Berichtigt durch Beschluss vom 6. September 2022]

„Vertragsverletzung – Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Art. 4, 7 und 67 – Freizügigkeit der Arbeitnehmer – Verordnung (EU) Nr. 492/2011 – Art. 7 – Gleichbehandlung – Familienleistungen – Soziale und steuerliche Vergünstigungen – Anpassung der Höhe an das Preisniveau im Wohnstaat der Kinder“

In der Rechtssache C‑328/20

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 22. Juli 2020,

Europäische Kommission, vertreten durch B.‑R. Killmann und D. Martin als Bevollmächtigte,

Klägerin,

unterstützt durch:

Tschechische Republik, vertreten durch J. Pavliš, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

Republik Kroatien, vertreten durch G. Vidović Mesarek als Bevollmächtigte,

Republik Polen, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

Rumänien, vertreten durch E. Gane und L. Liţu als Bevollmächtigte,

Republik Slowenien, vertreten durch J. Morela als Bevollmächtigte,

Slowakische Republik, vertreten durch B. Ricziová als Bevollmächtigte,

EFTA-Überwachungsbehörde, vertreten durch E. Gromnicka, C. Howdle, J. S. Watson und C. Zatschler als Bevollmächtigte,

Streithelfer,

gegen

Republik Österreich, vertreten durch M. Klamert, C. Pesendorfer, A. Posch und J. Schmoll als Bevollmächtigte,

Beklagte,

unterstützt durch:

Königreich Dänemark, vertreten durch M. Jespersen, J. Nymann-Lindegren und M. Wolff als Bevollmächtigte,

Königreich Norwegen, vertreten durch S. Hammersvik, J. T. Kaasin, L. Tvedt und P. Wennerås als Bevollmächtigte,

Streithelfer,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richter J. Passer, F. Biltgen (Berichterstatter) und N. Wahl sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Januar 2022

folgendes

Urteil

1

Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass

die Republik Österreich durch die Einführung eines Anpassungsmechanismus in Bezug auf die Familienbeihilfe und den Kinderabsetzbetrag für Erwerbstätige, deren Kinder ständig in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 4, 7 und 67 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1) sowie aus Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. 2011, L 141, S. 1) verstoßen hat und

die Republik Österreich durch die Einführung eines Anpassungsmechanismus in Bezug auf den Familienbonus Plus, den Alleinverdienerabsetzbetrag, den Alleinerzieherabsetzbetrag und den Unterhaltsabsetzbetrag für Wanderarbeitnehmer, deren Kinder ständig in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 verstoßen hat.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Verordnung Nr. 883/2004

2

Die Erwägungsgründe 8, 12 und 16 der Verordnung Nr. 883/2004 lauten:

„(8)

Der allgemeine Grundsatz der Gleichbehandlung ist für Arbeitnehmer, die nicht im Beschäftigungsmitgliedstaat wohnen, einschließlich Grenzgängern, von besonderer Bedeutung.

(12)

Im Lichte der Verhältnismäßigkeit sollte sichergestellt werden, dass der Grundsatz der Gleichstellung von Sachverhalten oder Ereignissen nicht zu sachlich nicht zu rechtfertigenden Ergebnissen oder zum Zusammentreffen von Leistungen gleicher Art für denselben Zeitraum führt.

(16)

Innerhalb der Gemeinschaft ist es grundsätzlich nicht gerechtfertigt, Ansprüche der sozialen Sicherheit vom Wohnort der betreffenden Person abhängig zu machen; in besonderen Fällen jedoch – vor allem bei besonderen Leistungen, die an das wirtschaftliche und soziale Umfeld der betreffenden Person gebunden sind – könnte der Wohnort berücksichtigt werden.“

3

Art. 1 Buchst. z der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt:

„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:

z)

‚Familienleistungen’ alle Sach- oder Geldleistungen zum Ausgleich von Familienlasten, mit Ausnahme von Unterhaltsvorschüssen und besonderen Geburts- und Adoptionsbeihilfen nach Anhang I.“

4

Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der Verordnung Nr. 883/2004 sieht vor:

„Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften, die folgende Zweige der sozialen Sicherheit betreffen:

j)

Familienleistungen.“

5

Art. 4 („Gleichbehandlung“) der Verordnung Nr. 883/2004 lautet:

„Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates.“

6

In Art. 5 („Gleichstellung von Leistungen, Einkünften, Sachverhalten oder Ereignissen“) der Verordnung Nr. 883/2004 heißt es:

„Sofern in dieser Verordnung nicht anderes bestimmt ist, gilt unter Berücksichtigung der besonderen Durchführungsbestimmungen Folgendes:

a)

Hat nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats der Bezug von Leistungen der sozialen Sicherheit oder sonstiger Einkünfte bestimmte Rechtswirkungen, so sind die entsprechenden Rechtsvorschriften auch bei Bezug von nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gewährten gleichartigen Leistungen oder bei Bezug von in einem anderen Mitgliedstaat erzielten Einkünften anwendbar.

b)

Hat nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats der Eintritt bestimmter Sachverhalte oder Ereignisse Rechtswirkungen, so berücksichtigt dieser Mitgliedstaat die in einem anderen Mitgliedstaat eingetretenen entsprechenden Sachverhalte oder Ereignisse, als ob sie im eigenen Hoheitsgebiet eingetreten wären.“

7

Art. 7 („Aufhebung der Wohnortklauseln“) der Verordnung Nr. 883/2004 sieht vor:

„Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, dürfen Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten oder nach dieser Verordnung zu zahlen sind, nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt bzw. wohnen, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat.“

8

Art. 67 („Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen“) der Verordnung Nr. 883/2004 lautet:

„Eine Person hat auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden. Ein Rentner hat jedoch Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des für die Rentengewährung zuständigen Mitgliedstaats.“

9

Art. 68 der Verordnung Nr. 883/2004 legt die Prioritätsregeln bei Zusammentreffen von Ansprüchen wie folgt fest:

„(1)   Sind für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren, so gelten folgende Prioritätsregeln:

a)

Sind Leistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus unterschiedlichen Gründen zu gewähren, so gilt folgende Rangfolge: an erster Stelle stehen die durch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgelösten Ansprüche, darauf folgen die durch den Bezug einer Rente ausgelösten Ansprüche und schließlich die durch den Wohnort ausgelösten Ansprüche.

b)

Sind Leistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus denselben Gründen zu gewähren, so richtet sich die Rangfolge nach den folgenden subsidiären Kriterien:

i)

bei Ansprüchen, die durch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgelöst werden: der Wohnort der Kinder, unter der Voraussetzung, dass dort eine solche Tätigkeit ausgeübt wird, …

(2)   Bei Zusammentreffen von Ansprüchen werden die Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften gewährt, die nach Absatz 1 Vorrang haben. Ansprüche auf Familienleistungen nach anderen widerstreitenden Rechtsvorschriften werden bis zur Höhe des nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags ausgesetzt; erforderlichenfalls ist ein Unterschiedsbetrag in Höhe des darüber hinausgehenden Betrags der Leistungen zu gewähren. …“

Verordnung Nr. 492/2011

10

Art. 7 Abs. 1 und 2 in Kapitel I Abschnitt 2 („Ausübung der Beschäftigung und Gleichbehandlung“) der Verordnung Nr. 492/2011 bestimmt:

„(1)   Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, darf aufgrund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Entlohnung, Kündigung und, falls er arbeitslos geworden ist, im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung, nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer.

(2)   Er genießt dort die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer.“

Österreichisches Recht

FLAG

11

Das Bundesgesetz vom 24. Oktober 1967 betreffend den Familienlastenausgleich durch Beihilfen (BGBl. 376/1967) in der durch das Bundesgesetz, mit dem das Familienlastenausgleichsgesetz 1967, das Einkommensteuergesetz 1988 und das Entwicklungshelfergesetz geändert werden, vom 4. Dezember 2018 (BGBl. I 83/2018) geänderten Fassung (im Folgenden: FLAG) bestimmt in § 1, dass die darin vorgesehenen Leistungen „[z]ur Herbeiführung eines Lastenausgleiches im Interesse der Familie … gewährt“ werden.

12

Nach § 2 Abs. 1 FLAG haben Personen, die im Bundesgebiet einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, Anspruch auf Familienbeihilfe für minderjährige Kinder.

13

§ 4 FLAG sieht vor:

„(1)   Personen, die Anspruch auf eine gleichartige ausländische Beihilfe haben, haben keinen Anspruch auf Familienbeihilfe.

(2)   Österreichische Staatsbürger, die gemäß Abs. 1 oder gemäß § 5 Abs. [4] vom Anspruch auf die Familienbeihilfe ausgeschlossen sind, erhalten eine Ausgleichszahlung, wenn die Höhe der gleichartigen ausländischen Beihilfe, auf die sie oder eine andere Person (§ 5 Abs. [4]) Anspruch haben, geringer ist als die Familienbeihilfe, die ihnen nach diesem Bundesgesetz ansonsten zu gewähren wäre.

(3)   Die Ausgleichszahlung wird in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen der gleichartigen ausländischen Beihilfe und der Familienbeihilfe, die nach diesem Bundesgesetz zu gewähren wäre, geleistet.

(6)   Die Ausgleichszahlung gilt als Familienbeihilfe im Sinne dieses Bundesgesetzes; die Bestimmungen über die Höhe der Familienbeihilfe finden jedoch auf die Ausgleichszahlung keine Anwendung.“

14

§ 5 Abs. 3 und 4 FLAG bestimmt:

„(3)   Kein Anspruch auf Familienbeihilfe besteht für Kinder, die sich ständig im Ausland aufhalten.

(4)   Kein Anspruch auf Familienbeihilfe besteht für Kinder, für die Anspruch auf eine gleichartige ausländische Beihilfe besteht. Die Gewährung einer Ausgleichszahlung (§ 4 Abs. 2) wird dadurch nicht ausgeschlossen.“

15

§ 8 FLAG sieht vor:

„(1)   Der einer Person zustehende Betrag an Familienbeihilfe bestimmt sich nach der Anzahl und dem Alter der Kinder, für die ihr Familienbeihilfe gewährt wird.

(2)   Die Familienbeihilfe beträgt monatlich

3.

ab 1. Jänner 2018:

a)

114 € für jedes Kind ab Beginn des Kalendermonats der Geburt,

b)

121,9 € für jedes Kind ab Beginn des Kalendermonats, in dem es das 3. Lebensjahr vollendet,

c)

141,5 € für jedes Kind ab Beginn des Kalendermonats, in dem es das 10. Lebensjahr vollendet,

d)

165,1 € für jedes Kind ab Beginn des Kalendermonats, in dem es das 19. Lebensjahr vollendet.

(3)   Die Familienbeihilfe erhöht sich monatlich für jedes Kind

3.

ab 1. Jänner 2018, wenn sie

a)

für zwei Kinder gewährt wird, um 7,1 €,

b)

für drei Kinder gewährt wird, um 17,4 €,

c)

für vier Kinder gewährt wird, um 26,5 €,

d)

für fünf Kinder gewährt wird, um 32 €,

e)

für sechs Kinder gewährt wird, um 35,7 €,

f)

für sieben und mehr Kinder gewährt wird, um 52 €.

(4)   Die Familienbeihilfe erhöht sich monatlich für jedes Kind, das erheblich behindert ist,

3. ab 1. Jänner 2018 um 155,9 €.

(8)   Für jedes Kind, das in einem Kalenderjahr das 6. Lebensjahr bereits vollendet hat oder vollendet und das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, erhöht sich die Familienbeihilfe für den September dieses Kalenderjahres um 100 €.“

16

§ 8a FLAG bestimmt:

„(1)   Die Beträge an Familienbeihilfe (§ 8) für Kinder, die sich ständig in einem anderen Mitgliedstaat der EU oder Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum [vom 2. Mai 1992 (ABl. 1994, L 1, S. 3, im Folgenden EWR-Abkommen)] oder der Schweiz aufhalten, sind auf Basis der vom Statistischen Amt der Europäischen Union [(Eurostat)] veröffentlichten vergleichenden Preisniveaus für jeden einzelnen Mitgliedstaat der EU, jede Vertragspartei des [EWR] und die Schweiz im Verhältnis zu Österreich zu bestimmen.

(2)   Die Beträge an Familienbeihilfe nach Abs. 1 gelten erstmals ab 1. Jänner 2019 auf Basis der zum Stichtag 1. Juni 2018 zuletzt veröffentlichten Werte nach Abs. 1. Die Beträge sind in der Folge jedes zweite Jahr auf Basis der zum Stichtag 1. Juni des Vorjahres zuletzt veröffentlichten Werte anzupassen.

(3)   Die Bundesministerin für Frauen, Familien und Jugend oder der Bundesminister für Frauen, Familien und Jugend hat gemeinsam mit der Bundesministerin für Finanzen oder dem Bundesminister für Finanzen die Berechnungsgrundlagen und die Beträge nach Abs. 1 und 2 sowie die Beträge nach § 33 Abs. 3 Z 2 [des Bundesgesetzes über die Besteuerung des Einkommens natürlicher Personen vom 7. Juli 1988 (BGBl. 400/1988) in der durch das Jahressteuergesetz 2018 vom 14. August 2018 (BGBl. I 62/2018) und das Bundesgesetz, mit dem das Familienlastenausgleichsgesetz 1967, das Einkommensteuergesetz 1988 und das Entwicklungshelfergesetz geändert werden, vom 4. Dezember 2018 geänderten Fassung (im Folgenden: EStG)] mit Verordnung kundzumachen.“

17

In § 53 FLAG heißt es:

„(1)   Staatsbürger von Vertragsparteien des [EWR-Abkommens] sind, soweit es sich aus dem genannten Übereinkommen ergibt, in diesem Bundesgesetz österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt. Hiebei ist der ständige Aufenthalt eines Kindes in einem Staat des Europäischen Wirtschaftsraums [(EWR)] nach Maßgabe der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen dem ständigen Aufenthalt eines Kindes in Österreich gleichzuhalten.

(4)   Abs. 1 zweiter Satz findet in Bezug auf § 8a Abs. 1 bis 3 keine Anwendung.

(5)   § 26 Abs. 3 der Bundesabgabenordnung … findet in Bezug auf Leistungen nach diesem Bundesgesetz bis 31. Dezember 2018 Anwendung. Ab 1. Jänner 2019 ist für Leistungen nach diesem Bundesgesetz § 26 Abs. 3 [der Bundesabgabenordnung] nur für Personen mit Dienstort im Ausland, die im Auftrag einer Gebietskörperschaft tätig werden, sowie für deren Ehegatten und Kinder anwendbar.“

EStG

18

§ 33 EStG sieht vor:

„(2)   Von dem sich nach Abs. 1 ergebenden [Steuerbetrag] sind Absetzbeträge in folgender Reihenfolge abzuziehen:

1.

Der Familienbonus Plus gemäß Abs. 3a; der Familienbonus Plus ist insoweit nicht abzuziehen, als er jene Steuer übersteigt, die auf das gemäß Abs. 1 zu versteuernde Einkommen entfällt.

2.

Die Absetzbeträge nach Abs. 4 bis 6.

(3)   Steuerpflichtigen, denen auf Grund des [FLAG] Familienbeihilfe gewährt wird, steht im Wege der gemeinsamen Auszahlung mit der Familienbeihilfe ein Kinderabsetzbetrag von monatlich 58,40 Euro für jedes Kind zu. Abweichend davon gilt:

1.

Für Kinder, die sich ständig außerhalb eines Mitgliedstaates der … Union, eines Staates des [EWR] oder der Schweiz aufhalten, steht kein Kinderabsetzbetrag zu.

2.

Für Kinder, die sich ständig in einem anderen Mitgliedstaat der EU oder Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei des [EWR-Abkommens] oder der Schweiz aufhalten, ist die Höhe des Kinderabsetzbetrages auf Basis der [von Eurostat] veröffentlichten vergleichenden Preisniveaus für jeden einzelnen Mitgliedstaat der EU, jede Vertragspartei des [EWR] und die Schweiz im Verhältnis zu Österreich zu bestimmen:

a)

Die Höhe der Kinderabsetzbeträge ist erstmals ab 1. Jänner 2019 auf Basis der zum Stichtag 1. Juni 2018 zuletzt veröffentlichten Werte anzupassen. Die Höhe der Kinderabsetzbeträge ist in der Folge jedes zweite Jahr auf Basis der zum Stichtag 1. Juni des Vorjahres zuletzt veröffentlichten Werte anzupassen.

(3a)   Für ein Kind, für das Familienbeihilfe nach dem [FLAG] gewährt wird und das sich ständig in einem Mitgliedstaat der EU oder Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei des [EWR-Abkommens] oder der Schweiz aufhält, steht auf Antrag ein Familienbonus Plus nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen zu:

1.

Der Familienbonus Plus beträgt

a)

bis zum Ablauf des Monats, in dem das Kind das 18. Lebensjahr vollendet, für jeden Kalendermonat 125 Euro,

b)

nach Ablauf des Monats, in dem das Kind das 18. Lebensjahr vollendet, für jeden Kalendermonat 41,68 Euro.

2.

Abweichend von Z 1 ist für Kinder, die sich ständig in einem anderen Mitgliedstaat der EU oder Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei des [EWR-Abkommens] oder der Schweiz aufhalten, die Höhe des Familienbonus Plus sowie der Absetzbeträge gemäß Abs. 4 auf Basis der [von Eurostat] veröffentlichten vergleichenden Preisniveaus für jeden einzelnen Mitgliedstaat der EU, jede Vertragspartei des [EWR] und die Schweiz im Verhältnis zu Österreich zu bestimmen:

a)

Die Höhe des Familienbonus Plus und der Absetzbeträge gemäß Abs. 4 ist ab 1. Jänner 2019 auf Basis der zum Stichtag 1. Juni 2018 zuletzt veröffentlichten Werte anzupassen. Die Höhe ist in der Folge jedes zweite Jahr auf Basis der zum Stichtag 1. Juni des Vorjahres zuletzt veröffentlichten Werte anzupassen.

5.

§ 26 Abs. 3 zweiter Satz der Bundesabgabenordnung kommt nicht zur Anwendung. Davon ausgenommen sind Ehegatten und Kinder von Steuerpflichtigen mit Dienstort im Ausland, die im Auftrag einer Gebietskörperschaft tätig sind.

(4)   Darüber hinaus stehen folgende Absetzbeträge zu, wenn sich das Kind ständig in einem Mitgliedstaat der EU oder Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei des [EWR-Abkommens] oder der Schweiz aufhält:

1.

Alleinverdienenden steht ein Alleinverdienerabsetzbetrag zu. Dieser beträgt jährlich

bei einem Kind (§ 106 Abs. 1) 494 Euro,

bei zwei Kindern (§ 106 Abs. 1) 669 Euro.

Dieser Betrag erhöht sich für das dritte und jedes weitere Kind (§ 106 Abs. 1) um jeweils 220 Euro jährlich.

2.

Alleinerziehenden steht ein Alleinerzieherabsetzbetrag zu. Dieser beträgt jährlich

bei einem Kind (§ 106 Abs. 1) 494 Euro,

bei zwei Kindern (§ 106 Abs. 1) 669 Euro.

Dieser Betrag erhöht sich für das dritte und jedes weitere Kind (§ 106 Abs. 1) um jeweils 220 Euro jährlich. Alleinerziehende sind Steuerpflichtige, die mit mindestens einem Kind (§ 106 Abs. 1) mehr als sechs Monate im Kalenderjahr nicht in einer Gemeinschaft mit einem (Ehe)Partner leben.

3.

Steuerpflichtigen, die für ein Kind den gesetzlichen Unterhalt leisten, steht ein Unterhaltsabsetzbetrag von 29,20 Euro monatlich zu …

4.

Abweichend von Z 1 bis 3 bestimmt sich die Höhe der Absetzbeträge für Kinder, die sich ständig in einem anderen Mitgliedstaat der EU oder Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei des [EWR-Abkommens] oder der Schweiz aufhalten, nach Abs. 3a Z 2. Steht ein Absetzbetrag für mehrere Kinder zu und halten diese sich in unterschiedlichen Ländern auf, sind zuerst ältere vor jüngeren anspruchsvermittelnden Kindern zu berücksichtigen.

5.

§ 26 Abs. 3 zweiter Satz der Bundesabgabenordnung kommt nicht zur Anwendung. Davon ausgenommen sind Ehegatten und Kinder von Steuerpflichtigen mit Dienstort im Ausland, die im Auftrag einer Gebietskörperschaft tätig sind.

(7)   Ergibt sich nach Abs. 1 eine Einkommensteuer unter 250 Euro und steht der Alleinverdienerabsetzbetrag oder der Alleinerzieherabsetzbetrag zu, gilt bei Vorhandensein eines Kindes (§ 106 Abs. 1) Folgendes:

1.

Die Differenz zwischen 250 Euro und der Steuer nach Abs. 1 ist als Kindermehrbetrag zu erstatten.

2.

Hält sich das Kind ständig in einem anderen Mitgliedstaat der EU oder Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei des [EWR-Abkommens] oder der Schweiz auf, tritt an die Stelle des Betrages von 250 Euro der Betrag, der sich bei Anwendung des Abs. 3a Z 2 ergibt.

Dieser Betrag erhöht sich für jedes weitere Kind (§ 106 Abs. 1) um den Betrag von 250 Euro oder den an seine Stelle tretenden Betrag.

(8)   1. Ergibt sich nach Abs. 1 und 2 eine Einkommensteuer unter null, ist insoweit der Alleinverdienerabsetzbetrag oder der Alleinerzieherabsetzbetrag zu erstatten.

…“

19

Die Höhe der Familienleistungen für Kinder, die sich ständig in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten, ist in der Familienbeihilfe-Kinderabsetzbetrag-EU-Anpassungsverordnung vom 10. Dezember 2018 (BGBl. II 318/2018, im Folgenden: Anpassungsverordnung) geregelt.

20

§ 2 Abs. 1 der Anpassungsverordnung bestimmt:

„Zur Bestimmung der Beträge nach § 1 wird ein Anpassungsfaktor festgelegt, der auf den [von Eurostat] am 1. Juni 2018 veröffentlichten Indikatoren im Rahmen der ‚Vergleichenden Preisniveaus des Endverbrauchs der privaten Haushalte einschließlich indirekter Steuern (EU-28 = 100)’ basiert.“

21

§ 2 Abs. 2 der Anpassungsverordnung enthält eine Tabelle mit den für die einzelnen Staaten geltenden Anpassungsfaktoren. Diese Anpassungsfaktoren variieren zwischen 0,450 (Bulgarien) und 1,520 (Schweiz), wobei der für die Tschechische Republik geltende Faktor 0,619 beträgt.

Bundesabgabenordnung

22

§ 26 der Bundesabgabenordnung bestimmt:

„(1)   Einen Wohnsitz im Sinn der Abgabenvorschriften hat jemand dort, wo er eine Wohnung innehat unter Umständen, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird.

(2)   Den gewöhnlichen Aufenthalt im Sinn der Abgabenvorschriften hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Land nicht nur vorübergehend verweilt. …

(3)   In einem Dienstverhältnis zu einer Körperschaft des öffentlichen Rechtes stehende österreichische Staatsbürger, die ihren Dienstort im Ausland haben (Auslandsbeamte), werden wie Personen behandelt, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt am Ort der die Dienstbezüge anweisenden Stelle haben. Das gleiche gilt für deren Ehegatten, sofern die Eheleute in dauernder Haushaltsgemeinschaft leben, und für deren minderjährige Kinder, die zu ihrem Haushalt gehören.“

Vorverfahren und Verfahren vor dem Gerichtshof

23

Mit Mahnschreiben vom 25. Januar 2019 forderte die Kommission die Republik Österreich auf, zu den Bedenken Stellung zu nehmen, die hinsichtlich des am 1. Jänner 2019 in Kraft getretenen Anpassungsmechanismus, der sich aus den Änderungen von § 8a FLAG und § 33 EStG durch das Jahressteuergesetz 2018 und das Bundesgesetz vom 4. Dezember 2018 ergebe (im Folgenden: Anpassungsmechanismus), bestünden. Nach Ansicht der Kommission verstößt dieser Mechanismus zur Anpassung der Familienleistungen sowie der sozialen und steuerlichen Vergünstigungen, die von der Republik Österreich zugunsten von Arbeitnehmern mit Kindern gewährt würden, nach dem Preisniveau jenes Mitgliedstaats, in dem sich das Kind ständig aufhalte, gegen die Art. 7 und 67 der Verordnung Nr. 883/2004, wonach Leistungen, die in Geld bestünden, nicht aufgrund der Tatsache gekürzt werden dürften, dass ein Familienangehöriger wie ein Kind in einem anderen Mitgliedstaat wohne. Da der Anpassungsmechanismus vornehmlich nicht österreichische Arbeitnehmer, sondern Arbeitnehmer anderer Mitgliedstaaten betreffe, stelle er außerdem eine mittelbare Diskriminierung dar, die gegen das in Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 7 der Verordnung Nr. 492/2011 verankerte Gleichbehandlungsgebot verstoße.

24

Am 25. März 2019 antwortete die Republik Österreich der Kommission, dass Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 die Anpassung von Familienleistungen an den Wohnort des Kindes erlaube. Zunächst sehe das Unionsrecht selbst vergleichbare Mechanismen vor. Sodann verlange Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 nicht, dass die Höhe der für die in einem anderen Mitgliedstaat wohnenden Kinder gezahlten Leistungen der entsprechen müsse, die für in Österreich wohnende Kinder gezahlt werde. Schließlich liege keine mittelbare Diskriminierung vor, da es sachlich gerechtfertigt sei und alle Arbeitnehmer entlaste, wenn die Familienleistungen und die sozialen und steuerlichen Vergünstigungen dem Preisniveau jenes Staates angepasst würden, in dem das Kind wohne.

25

Da die Kommission diese Antwort nicht für zufriedenstellend hielt, gab sie am 26. Juli 2019 eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie im Wesentlichen an ihrem Standpunkt festhielt. Sie wies darauf hin, dass die Familienleistungen und die sozialen und steuerlichen Vergünstigungen für Kinder pauschal gewährt und nicht nach dem Preisniveau in den verschiedenen Regionen Österreichs nach dem Ort des ständigen Aufenthalts des Kindes angepasst würden. Eine unterschiedliche Höhe dieser Leistungen und Vergünstigungen für Kinder, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnten, treffe Wanderarbeitnehmer härter als österreichische Arbeitnehmer und stelle damit eine mittelbare Diskriminierung dar. Der pauschale Charakter der Höhe dieser Leistungen und der Vorteile zeige, dass sie nicht von den tatsächlichen Kosten für den Unterhalt eines Kindes abhingen und daher keine gerechtere Verteilung der Lasten, die Familien bei der Versorgung von Kindern zu tragen hätten, gewährleisteten.

26

Mit Schreiben vom 24. Oktober 2019 antwortete die Republik Österreich auf diese mit Gründen versehene Stellungnahme, dass die Familienleistungen und die sozialen und die steuerlichen Vergünstigungen nicht einfach Pauschalbeträge seien, sondern dem tatsächlichen Bedarf der Begünstigten entsprächen. Außerdem stehe der Umstand, dass diese Leistungen und Vergünstigungen als Pauschalbeträge gewährt würden, nicht dem entgegen, dass deren Höhe nach dem Preisniveau am Wohnort der Kinder angepasst werde. Diese Anpassung sei keine Ungleichbehandlung, sondern stelle nur sicher, dass die begünstigten Arbeitnehmer die gleiche Entlastung erhielten, unabhängig davon, wo sich das Kind tatsächlich aufhalte. Selbst wenn eine mittelbare Diskriminierung vorläge, wäre diese u. a. durch das Ziel der Ausgewogenheit der Aufwendungen für das Sozialsystem sowie das Ziel der Berücksichtigung der steuerlichen Leistungsfähigkeit der Begünstigten gerechtfertigt.

27

Da die Kommission diese Antwort nicht für überzeugend hielt, hat sie die vorliegende Vertragsverletzungsklage erhoben.

28

Mit Beschlüssen des Präsidenten des Gerichtshofs vom 22. Oktober, vom 6., 12., 19. und 20. November sowie vom 18. Dezember 2020 sind die Tschechische Republik, die Republik Kroatien, die Republik Polen, Rumänien, die Republik Slowenien, die Slowakische Republik und die EFTA-Überwachungsbehörde als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen worden. Mit Beschlüssen des Präsidenten des Gerichtshofs vom 20. November und vom 18. Dezember 2020 sind das Königreich Dänemark und das Königreich Norwegen als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Republik Österreich zugelassen worden.

Zur Klage

29

Die Kommission stützt ihre Klage auf zwei Rügen. Die erste betrifft einen Verstoß gegen die Art. 7 und 67 der Verordnung Nr. 883/2004 und die zweite einen Verstoß gegen Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 sowie gegen Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011.

Zur ersten Rüge: Verstoß gegen die Art. 7 und 67 der Verordnung Nr. 883/2004

Vorbringen der Parteien

30

Die Kommission vertritt die Ansicht, die Republik Österreich habe dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 7 und 67 der Verordnung Nr. 883/2004 verstoßen, dass sie für Erwerbstätige, die dem österreichischen Sozialversicherungssystem angeschlossen seien, deren Kinder aber in einem anderen Mitgliedstaat wohnten, einen Mechanismus zur Anpassung der Familienbeihilfe und des Kinderabsetzbetrags, die in § 2 Abs. 1 FLAG bzw. in § 33 Abs. 3 EStG geregelt seien, eingeführt habe.

31

Es stehe fest, dass die Familienbeihilfe und der Kinderabsetzbetrag, die staatliche Geldleistungen seien, die die Kosten für den Unterhalt von Kindern verringern sollten, eine Familienleistung nach Art. 1 Buchst. z und nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der Verordnung Nr. 883/2004 seien. Diese Leistungen würden aufgrund gesetzlich umschriebener Kriterien unabhängig von einer im Ermessen liegenden individuellen Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit der Kinder gewährt und nach der Zahl und dem Alter der Kinder berechnet. Die Republik Österreich habe nicht nachgewiesen, dass ein Zusammenhang zwischen der Höhe der Familienbeihilfe und den durchschnittlichen Kosten für den Unterhalt eines Kindes bestehe, da diese Höhe allein vom Alter des Kindes abhänge.

32

Nach Art. 7 in Verbindung mit Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004, die beide denselben Zweck verfolgten, sei es den Mitgliedstaaten jedoch untersagt, die Gewährung oder die Höhe von Familienleistungen davon abhängig zu machen, dass die Familienangehörigen des Erwerbstätigen in dem Mitgliedstaat wohnten, in dem die Leistungen erbracht würden (Urteil vom 18. September 2019, Moser, C‑32/18, EU:C:2019:752, Rn. 36). Diese Bestimmungen seien im Anschluss an das Urteil vom 15. Januar 1986, Pinna (41/84, EU:C:1986:1), erlassen worden, mit dem der Gerichtshof Art. 73 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. 1971, L 149, S. 2), teilweise für ungültig erklärt habe, dessen Inhalt im Wesentlichen in Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 übernommen worden sei. Aus diesem Urteil ergebe sich, dass es einem Mitgliedstaat nicht gestattet sei, die Höhe der Familienleistungen allein deshalb an die eines anderen Mitgliedstaats anzupassen, weil die Familienangehörigen des Begünstigten in diesem anderen Mitgliedstaat wohnten. Der Anpassungsmechanismus führe gerade dazu, dass diese Leistungen nicht gewährt würden, „als ob“ die Familienangehörigen in Österreich wohnten.

33

Diese Auslegung der Art. 7 und 67 der Verordnung Nr. 883/2004 werde durch Art. 5 Buchst. b dieser Verordnung bestätigt, der jeden Mitgliedstaat verpflichte, die in einem anderen Mitgliedstaat eingetretenen Sachverhalte oder Ereignisse – wie etwa das Vorhandensein von Kindern, das einen Anspruch auf Leistungen begründe – nicht einfach nur zu berücksichtigen, sondern so zu berücksichtigen, „als ob“ sie im eigenen Hoheitsgebiet eingetreten wären.

34

Daraus, dass der Beschluss der im Europäischen Rat vereinigten Staats- und Regierungschefs vom 18. und 19. Februar 2016 über eine neue Regelung für das Vereinigte Königreich innerhalb der Europäischen Union (ABl. 2016, C 69 I, S. 1, im Folgenden: neue Regelung für das Vereinigte Königreich innerhalb der Europäischen Union) eine Indexierung der Sozialleistungen für Kinder nach den Lebenshaltungskosten am Wohnort des Kindes vorgesehen habe, könnten keine Schlussfolgerungen gezogen werden. Laut diesem Beschluss habe die Kommission einen Vorschlag zur Änderung der Verordnung Nr. 883/2004 vorlegen müssen. Aufgrund des Austritts des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Union sei diese Verordnung jedoch nicht geändert worden. Überdies habe die Kommission in ihrem Vorschlag vom 13. Dezember 2016 für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung Nr. 883/2004 (COM[2016] 815 final) keinen Indexierungsmechanismus vorgesehen, da ihre Dienststellen Vorbehalte gegen die Vereinbarkeit eines solchen Mechanismus mit dem Unionsrecht geäußert hätten.

35

Die Republik Österreich weist zunächst darauf hin, dass das FLAG unter dem Begriff „Familienbeihilfe“ mehrere Beihilfen für Familien zusammengeführt habe, die vor seinem Erlass im Jahr 1967 bestanden hätten und einen Teil der Kosten für die Lebenshaltung von unterhaltsberechtigten Kindern ausgleichen sollten. Die Familienbeihilfe werde auf der Grundlage der tatsächlichen Bedürfnisse von Kindern und des typischen Aufwandes zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts in Österreich berechnet, ohne dass der Begünstigte die tatsächlich gemachten Aufwendungen nachweisen müsse. Die Familienbeihilfe erhöhe sich mit steigendem Lebensalter der Kinder oder bei Vorliegen einer Behinderung.

36

Das Familienbeihilfesystem beruhe zum einen auf der Gewährung direkter Beihilfen und zum anderen auf steuerlichen Vergünstigungen. Die Familienbeihilfe werde vom Ausgleichsfonds für Familienbeihilfen (Österreich) getragen, dessen Mittel nicht von den Arbeitnehmern, sondern von den Beiträgen der Arbeitgeber stammten. Außerdem hätten nach § 2 Abs. 1 FLAG alle Personen mit Kindern, die in Österreich wohnten, Anspruch auf Familienbeihilfen in der jeweils gleichen Höhe, unabhängig davon, ob eine Erwerbstätigkeit ausgeübt werde oder wie hoch die Beiträge des Arbeitgebers seien.

37

Der Kinderabsetzbetrag habe nicht zum Ziel, den Eltern eine Direktleistung zukommen zu lassen, sondern einen Teil jener Lasten, die mit der Lebenshaltung von Kindern typischerweise verbunden seien, abzudecken. Mit dem Kinderabsetzbetrag solle eine gewisse Steuergerechtigkeit zwischen kinderlosen Personen und Personen mit Kindern hergestellt werden. Wirtschaftlich sei der Kinderabsetzbetrag ein aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanzierter Zuschlag zur Familienbeihilfe.

38

Die Einführung der Familienbeihilfe gehe auf eine Zeit zurück, in der Arbeitsmigration eine geringere Rolle gespielt habe. Wegen der Zunahme der Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union habe der undifferenzierte Export der Familienbeihilfe bzw. des Kinderabsetzbetrags zunehmend zu Verzerrungen im österreichischen System der Familienleistungen geführt. Der Anpassungsmechanismus ermögliche es, diese Verzerrungen unter Berücksichtigung der von Eurostat veröffentlichten Unterschiede im Preisniveau zwischen den Mitgliedstaaten zu beseitigen. Es handle sich daher nicht um eine bloße Einsparungsmaßnahme.

39

Zur Auslegung der Art. 7 und 67 der Verordnung Nr. 883/2004 trägt die Republik Österreich zunächst vor, dass Art. 67, der speziell die Situation von Familienangehörigen betreffe, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnten, Vorrang vor Art. 7 habe, der eine allgemeine Regel zum Ausdruck bringe. Daher beschränkt sich die Republik Österreich auf die Prüfung der Vereinbarkeit des Anpassungsmechanismus mit Art. 67 dieser Verordnung und macht geltend, dass der Anpassungsmechanismus mit den Zielen dieser Bestimmung in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof, u. a. in seinem Urteil vom 18. September 2019, Moser (C‑32/18, EU:C:2019:752, Rn. 35), im Einklang stehe. Die Gewährung und die Höhe der Familienbeihilfe und des Kinderabsetzbetrags hingen nämlich nicht vom Wohnsitz des Kindes in Österreich ab. Da die Kosten für den Unterhalt der Kinder vom Preisniveau in ihrem Wohnmitgliedstaat abhingen und dieses Niveau von einem Mitgliedstaat zum anderen variiere, sei die Höhe dieser Leistungen anzupassen, um sicherzustellen, dass sie gewährt würden, „als ob“ die Familienangehörigen in Österreich lebten. Diese Auslegung werde durch den 16. Erwägungsgrund dieser Verordnung sowie durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs bestätigt, insbesondere durch die Urteile vom 27. September 1988, Lenoir (313/86, EU:C:1988:452, Rn. 16), und vom 18. September 2019, Moser (C‑32/18, EU:C:2019:752, Rn. 53 und 54). Da das Ziel der Familienbeihilfe und des Kinderabsetzbetrags darin bestehe, den Eltern einen Teil der Kosten für den Unterhalt der Kinder zu erstatten, sei es zulässig, die Höhe dieser Leistungen an das Preisniveau des Wohnmitgliedstaats der Kinder anzupassen.

40

Sodann weist die Republik Österreich darauf hin, dass anders als in dem Sachverhalt, um den es in dem von der Kommission angeführten Urteil vom 15. Januar 1986, Pinna (41/84, EU:C:1986:1), gegangen sei, der Anpassungsmechanismus den Export der Familienleistung in andere Mitgliedstaaten nicht ausschließe. Indem dieser Anpassungsmechanismus die Lebenshaltungskosten widerspiegele, stelle er sicher, dass für alle Kinder eine wertmäßig gleiche Leistung gewährt werde.

41

Schließlich weist die Republik Österreich darauf hin, dass die neue Regelung für das Vereinigte Königreich innerhalb der Europäischen Union hinsichtlich des Exports von Familienleistungen vorgesehen habe, die Höhe der im Wohnstaat der Kinder gewährten Leistungen und die Unterschiede im Preisniveau zwischen den Mitgliedstaaten zu berücksichtigen. Obwohl diese Regelung niemals in Kraft getreten sei, habe der Europäische Rat die Auffassung vertreten, dass diese für das Vereinigte Königreich vorgesehenen Maßnahmen mit den Verträgen voll und ganz im Einklang stünden. Auch die Kommission selbst habe diese Maßnahmen als mit Art. 48 AEUV vereinbar angesehen. Hierzu führt die Republik Österreich aus, dass keine Anpassung der Verordnung Nr. 492/2011 erforderlich gewesen wäre, was dafür spreche, dass Art. 7 dieser Verordnung – wie auch Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 – keine Regelung enthalte, die über das primärrechtlich verankerte Diskriminierungsverbot hinausgehe. Eine Änderung der Verordnung Nr. 883/2004 wäre nach Ansicht der Republik Österreich für jene Fälle nicht erforderlich gewesen, in denen ein Mitgliedstaat eine Familienleistung, die an das wirtschaftliche und soziale Umfeld im Mitgliedstaat geknüpft sei, beim Export nach objektiven Regeln sowohl nach oben als auch nach unten anpasse.

Würdigung durch den Gerichtshof

42

Zunächst ist festzustellen, dass die Familienbeihilfe und der Kinderabsetzbetrag, die Gegenstand der ersten Rüge sind, unstreitig Familienleistungen im Sinne von Art. 1 Buchst. z der Verordnung Nr. 883/2004 sind und dass diese Verordnung auf den Anpassungsmechanismus anwendbar ist, da sie für alle Rechtsvorschriften gilt, die Zweige der sozialen Sicherheit in Bezug auf Familienleistungen betreffen.

43

Daher müssen die Familienbeihilfe und der Kinderabsetzbetrag insbesondere Art. 7 der Verordnung Nr. 883/2004 entsprechen, wonach solche Leistungen, sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, „nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden [dürfen], dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt bzw. wohnen, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat“.

44

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 den Grundsatz festlegt, dass eine Person Anspruch auf Familienleistungen für Familienangehörige, die in einem anderen als dem für die Gewährung dieser Leistungen zuständigen Mitgliedstaat wohnen, so erheben kann, als würden sie in dem zuständigen Mitgliedstaat wohnen (Urteil vom 22. Oktober 2015, Trapkowski, C‑378/14, EU:C:2015:720, Rn. 35).

45

Da Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 speziell in Bezug auf Familienleistungen die Vorgaben von Art. 7 dieser Verordnung übernimmt, führt ein Verstoß gegen Art. 67 auch zu einem Verstoß gegen Art. 7 dieser Verordnung.

46

Des Weiteren hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass mit den Art. 7 und 67 der Verordnung Nr. 883/2004 verhindert werden soll, dass ein Mitgliedstaat die Gewährung oder die Höhe von Familienleistungen davon abhängig machen kann, dass die Familienangehörigen des Erwerbstätigen in dem die Leistungen erbringenden Mitgliedstaat wohnen (vgl. u. a. Urteil vom 25. November 2021, Finanzamt Österreich [Familienleistungen für Entwicklungshelfer], C‑372/20, EU:C:2021:962, Rn. 76 und die dort angeführte Rechtsprechung).

47

Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 ist daher dahin auszulegen, dass die Familienleistungen, die ein Mitgliedstaat Erwerbstätigen gewährt, deren Familienangehörige in diesem Mitgliedstaat wohnen, exakt jenen entsprechen müssen, die er Erwerbstätigen gewährt, deren Familienangehörige in einem anderen Mitgliedstaat wohnen. Entgegen dem Vorbringen der Republik Österreich rechtfertigen es die Kaufkraftunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten im Hinblick auf diese Bestimmung nicht, dass ein Mitgliedstaat dieser zweiten Personengruppe Leistungen in anderer Höhe gewährt als der ersten Personengruppe.

48

Sicherlich ist der in Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 normierte Grundsatz der Gleichstellung insofern kein absoluter, als die Antikumulierungsvorschriften des Art. 68 dieser Verordnung Anwendung finden, wenn mehrere Ansprüche aufgrund unterschiedlicher Rechtsordnungen geschuldet werden (Urteil vom 18. September 2019, Moser, C‑32/18, EU:C:2019:752, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49

Der Gerichtshof hat konkret zu Art. 68 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 entschieden, dass solche Antikumulierungsvorschriften dem Empfänger der von mehreren Mitgliedstaaten gezahlten Leistungen einen Gesamtbetrag an Leistungen garantieren sollen, der gleich dem Betrag der günstigsten Leistung ist, die ihm nach dem Recht nur eines dieser Staaten zusteht (Urteil vom 18. September 2019, Moser, C‑32/18, EU:C:2019:752, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50

Bei der Prüfung der Behandlung der von der Verordnung Nr. 883/2004 erfassten Arbeitnehmer kommt es daher auf den wirtschaftlichen Wert dieser Leistungen nicht im Hinblick auf die Kaufkraft und das Preisniveau am Wohnort der betreffenden Personen, sondern im Hinblick auf die Höhe der geschuldeten Leistungen an.

51

In Anbetracht der in Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 normierten Fiktion, wonach eine Person für Familienangehörige, die in einem anderen als dem für die Gewährung von Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf diese Leistungen hat, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden, und unter Berücksichtigung des Umstandes, dass Wanderarbeitnehmern die sozialpolitischen Maßnahmen des Aufnahmemitgliedstaats unter den gleichen Bedingungen zugutekommen müssen wie inländischen Arbeitnehmern, da sie mit den Steuern und Sozialabgaben, die sie in diesem Staat aufgrund der dort von ihnen ausgeübten unselbständigen Erwerbstätigkeit entrichten, zur Finanzierung dieser Maßnahmen beitragen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juli 2019, Aubriet, C‑410/18, EU:C:2019:582, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung), dürfen die Mitgliedstaaten gemäß dieser Verordnung die Familienleistungen nicht nach Maßgabe des Wohnstaats der Kinder des Begünstigten anpassen.

52

Genau dies ist hier der Fall. Nur die Empfänger von Familienleistungen, deren Kinder nicht in Österreich wohnen, unterliegen nämlich dem Mechanismus zur Anpassung der Höhe dieser Leistungen an das Preisniveau und die Kaufkraft am Wohnort ihrer Kinder. Ein solcher Mechanismus gilt nicht für Familienleistungen, die für Kinder gewährt werden, die in verschiedenen Regionen Österreichs wohnen, obwohl zwischen diesen Regionen Preisniveauunterschiede bestehen, die mit denen vergleichbar sind, die zwischen der Republik Österreich und anderen Mitgliedstaaten bestehen können.

53

Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass – wie der Generalanwalt in den Nrn. 77 bis 79 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – nicht feststeht, dass die Höhe der von der Republik Österreich gewährten Familienleistungen je nach den tatsächlichen Lebenshaltungskosten oder den tatsächlichen Ausgaben für den Unterhalt der Kinder variiert, da diese Beträge pauschal nach Maßgabe der Zahl und gegebenenfalls des Alters der Kinder oder einer Behinderung der Kinder gewährt werden.

54

Folglich kann nicht damit argumentiert werden, dass der Gerichtshof in seinem Urteil vom 18. September 2019, Moser (C‑32/18, EU:C:2019:752, Rn. 53 und 54), festgestellt hat, dass das mit den nationalen Rechtsvorschriften verfolgte Ziel entscheidend ist und dass ein Mitgliedstaat die tatsächlichen Einkommensverhältnisse im Beschäftigungsstaat berücksichtigen kann. In der Rechtssache, die diesem Urteil zugrunde lag, ging es nämlich um ein Kinderbetreuungsgeld, das in seiner einkommensabhängigen Variante eine Ersatzleistung für das vorherige Erwerbseinkommen darstellte und keine Familienleistung betraf, die keinen Zusammenhang mit den tatsächlichen Kosten aufwies und deren Höhe unabhängig von einer im Ermessen liegenden individuellen Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit der Begünstigten aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands bemessen wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. April 2020, Caisse pour l’avenir des enfants [Kind des Ehegatten eines Grenzgängers], C‑802/18, EU:C:2020:269, Rn. 36).

55

Außerdem trifft es zwar zu, dass der Gerichtshof – wie die Republik Österreich geltend gemacht hat – in seinem Urteil vom 27. September 1988, Lenoir (313/86, EU:C:1988:452), anerkannt hat, dass Leistungen, die zur Deckung gewisser durch den Beginn des Schuljahres der Kinder veranlasster Kosten bestimmt sind, eng an das soziale Umfeld und damit auch an den Wohnort der Betroffenen gebunden sind, so dass dieser Wohnort berücksichtigt werden kann, doch hat der Gerichtshof in Rn. 16 dieses Urteils entschieden, dass regelmäßige Geldleistungen, wenn sie „ausschließlich nach Maßgabe der Zahl und gegebenenfalls des Alters der Familienangehörigen“ gewährt werden, „unabhängig vom Wohnort des Empfängers und seiner Familie zahlbar“ bleiben. Die Republik Österreich kann sich daher nicht auf dieses Urteil berufen.

56

Was schließlich die Relevanz des von der Republik Österreich angeführten Urteils vom 15. Januar 1986, Pinna (41/84, EU:C:1986:1), anbelangt, genügt der Hinweis, dass – wie der Generalanwalt in Nr. 70 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat – der dieser Rechtssache zugrunde liegende Rechtsstreit einen Unterschied hinsichtlich des Betrags oder der Höhe der Leistungen je nachdem, in welchem Staat die betreffenden Familienangehörigen wohnten, zum Gegenstand hatte, was zur Folge hatte, dass die erworbenen Rechte des Wanderarbeitnehmers geschmälert wurden und damit das Ziel, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der Union zu gewährleisten, missachtet wurde. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass im Hinblick auf die Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit mit Unionsrechtsvorschriften keine Unterschiede eingeführt werden dürfen, die zu denen hinzutreten, die sich bereits aus der mangelnden Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit ergeben. Diese Beurteilung gilt erst recht für eine nationale Bestimmung, die von dem vom Unionsgesetzgeber aufgestellten und in Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 normierten Grundsatz der Gleichstellung abweicht.

57

Zur Vereinbarkeit des Indexierungsmechanismus, der in der neuen Regelung für das Vereinigte Königreich innerhalb der Europäischen Union vorgesehen war, mit dem Unionsrecht ist auf zwei Gesichtspunkte hinzuweisen. Zum einen ist diese Regelung nie in Kraft getreten, weshalb die Kommission auch keinen Vorschlag zur Änderung der Verordnung Nr. 883/2004 vorgelegt hat, der es den Mitgliedstaaten erlaubt hätte, die Sozialleistungen für Kinder, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen als der Arbeitnehmer, zu indexieren. Zum anderen wäre eine solche Änderung – wenn sie vom Unionsgesetzgeber angenommen worden wäre – wie das Urteil vom 15. Januar 1986, Pinna (41/84, EU:C:1986:1), zeigt, jedenfalls im Hinblick auf Art. 45 AEUV ungültig gewesen.

58

Nach alledem ist die erste Rüge, mit der ein Verstoß gegen die Verpflichtungen aus Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 geltend gemacht wird, begründet.

Zur zweiten Rüge: Verstoß gegen Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011

Vorbringen der Parteien

59

Die Kommission vertritt die Ansicht, dass die Republik Österreich durch die Einführung eines Mechanismus zur Anpassung der Familienbeihilfe, des Kinderabsetzbetrags, des Familienbonus Plus nach § 33 Abs. 3a EStG sowie des Alleinverdienerabsetzbetrags, des Alleinerzieherabsetzbetrags und des Unterhaltsabsetzbetrags nach § 33 Abs. 4 EStG an den Wohnort des Kindes gegen ihre Verpflichtungen aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 verstoßen habe.

60

Die Kommission weist darauf hin, dass Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 in ihren jeweiligen Bereichen den in Art. 45 Abs. 2 AEUV verankerten Gleichbehandlungsgrundsatz konkretisierten, der die betroffenen Arbeitnehmer vor jeder unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit schütze, die sich aus den nationalen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten ergebe. Insbesondere seien alle – sowohl die sozialen als auch die steuerlichen – Vergünstigungen erfasst, die – ob sie an einen Arbeitsvertrag anknüpften oder nicht – den inländischen Arbeitnehmern hauptsächlich wegen ihrer objektiven Arbeitnehmereigenschaft oder einfach wegen ihres Wohnorts im Inland gewährt würden (Urteil vom 12. Mai 1998, Martínez Sala, C‑85/96, EU:C:1998:217, Rn. 25).

61

Aus dem Urteil vom 2. April 2020, Caisse pour l’avenir des enfants [Kind des Ehegatten eines Grenzgängers] (C‑802/18, EU:C:2020:269, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung), gehe hervor, dass die Familienbeihilfe und der Kinderabsetzbetrag sowohl Familienleistungen, auf die der Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 anzuwenden sei, als auch soziale Vergünstigungen, für die Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 gelte, seien. Der Familienbonus Plus, der Alleinverdienerabsetzbetrag, der Alleinerzieherabsetzbetrag und der Unterhaltsabsetzbetrag setzten die Höhe der Steuer auf das Einkommen herab. Da vorausgesetzt werde, dass der Begünstigte in Österreich steuerpflichtig sei, stellten diese Maßnahmen steuerliche Vergünstigungen dar, für die der Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 gelte.

62

Die Kommission wiederholt, dass der Anpassungsmechanismus im Wesentlichen Wanderarbeitnehmer betreffe, deren Familienangehörige außerhalb des Mitgliedstaats der Leistung wohnten.

63

Aus den Gesetzesmaterialien zur Einführung des Anpassungsmechanismus ergebe sich, dass der österreichische Gesetzgeber das Ziel verfolgt habe, sich Ausgaben im nationalen Budget zu ersparen. Der Gesetzgeber sei davon ausgegangen, dass es mehr Empfänger von Familienleistungen sowie sozialen und steuerlichen Vergünstigungen gebe, deren Kinder in Mitgliedstaaten lebten, in denen das Preisniveau niedriger als in Österreich sei, als solche, deren Kinder in Mitgliedstaaten lebten, in denen ein höheres Preisniveau herrsche. Denn nur im Fall der Schweizerischen Eidgenossenschaft und des Fürstentums Liechtenstein führe der Anpassungsmechanismus zu einem Betrag, der höher oder gleich dem in Österreich zu zahlenden Pauschalbetrag sei.

64

Außerdem gelte der Anpassungsmechanismus nicht für Kinder von österreichischen Beamten, die ins Ausland entsandt seien, obwohl es nach den vom Gerichtshof entwickelten Kriterien für die Beurteilung der Vergleichbarkeit von Sachverhalten keinen Unterschied zwischen diesen österreichischen Beamten und Wanderarbeitnehmern, deren Kinder nicht in Österreich wohnten, gebe.

65

Daher führe der Anpassungsmechanismus zu einer mittelbaren Diskriminierung von Wanderarbeitnehmern, zu deren Rechtfertigung kein legitimes Ziel zu erkennen sei.

66

Die Kommission weist darauf hin, dass die Familienleistungen sowie die sozialen und steuerlichen Vergünstigungen, die dem Anpassungsmechanismus unterlägen, nicht nach dem Preisniveau am Wohnort des Kindes berechnet würden. Innerhalb Österreichs sei ihr Pauschalbetrag trotz der Kaufkraftunterschiede zwischen den verschiedenen Regionen einheitlich.

67

Die Kommission hält es für widersprüchlich, wenn die Republik Österreich behaupte, dass die dem Anpassungsmechanismus unterliegenden Familienleistungen sowie sozialen und steuerlichen Vergünstigungen an die tatsächlichen Ausgaben für den Unterhalt der Kinder geknüpft seien, während eine Anpassung ihrer Beträge an die Kaufkraftunterschiede zwischen den österreichischen Regionen – von z. B. 8 % zwischen dem Land Wien und dem Land Niederösterreich – ausgeschlossen sei, obwohl die Republik Österreich eine solche Anpassung angesichts der Kaufkraftunterschiede zur Bundesrepublik Deutschland oder zur Italienischen Republik, die lediglich 2,6 % bzw. 5,2 % betrügen, für erforderlich halte.

68

Nach Ansicht der Kommission ist der Anpassungsmechanismus nicht mit den Berichtigungskoeffizienten vergleichbar, die auf die Dienstbezüge der Beamten der Europäischen Union und auf Finanzhilfen anwendbar seien. Insbesondere bestimme sich dieser Berichtigungskoeffizient nicht nach dem Wohnort der Kinder, sondern nach dem Ort der dienstlichen Verwendung der Beamten bzw. nach dem Ort der Zahlung der betreffenden Finanzhilfe.

69

Die Kommission weist darauf hin, dass die Rechtfertigung einer etwaigen Diskriminierung mit dem Ziel, eine Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts für das System der sozialen Sicherheit hintanzuhalten, voraussetze, dass diese Gefährdung erheblich sei. Aus einem im Juli 2018 veröffentlichten Bericht des Rechnungshofs (Österreich) mit der Überschrift „Familienbeihilfe – Ziele und Zielerreichung, Kosten und Kontrollsystem“ (im Folgenden: Rechnungshofbericht), auf den sich die Republik Österreich im Vorverfahren berufen habe, gehe jedoch hervor, dass Stützungen durch das nationale Budget zur Finanzierung der Familienleistungen nötig geworden seien, weil eine Erhöhung der Pauschalbeträge und eine gleichzeitige Verringerung der Quellen für die Finanzierung der Familienleistungen vorgenommen worden seien. Außerdem machten die Familienleistungen für Kinder, die sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhielten, nur ungefähr 6 % der gesamten Zahlungen aus und diese Leistungen wirkten sich auf die Finanzierung der Familienleistungen im Wesentlichen deshalb aus, weil es an entsprechenden Kontrollen durch die österreichischen Behörden für die Gewährung der Leistungen fehle.

70

Die Republik Österreich könne sich daher zur Rechtfertigung nicht darauf berufen, dass sie auf durch die finanzielle Unterstützung von Wanderarbeitnehmern verursachte Verzerrungen reagieren habe müssen, zumal die Erwerbstätigen aus anderen Mitgliedstaaten in gleicher Weise zur Finanzierung des österreichischen Sozial- und Steuersystems beitrügen wie Erwerbstätige aus Österreich, egal wo sich ihre Kinder aufhielten.

71

Der Wille des österreichischen Gesetzgebers, sich zu vergewissern, dass die Familienleistungen oder die sozialen und steuerlichen Vergünstigungen für alle Kinder unabhängig von ihrem Wohnort sich wertmäßig entsprächen, stelle keine Rechtfertigung dar, die auf einem zwingenden Grund des Allgemeininteresses beruhe. Die auf Erwägungen der Gleichbehandlung und der Kohärenz des Anpassungsmechanismus gestützten Rechtfertigungen stünden außerdem im Widerspruch zur Ausnahme vom Anpassungsmechanismus zugunsten von ins Ausland entsandten österreichischen Beamten.

72

Die Republik Österreich bestreitet jede mittelbare Diskriminierung von Wanderarbeitnehmern. Indem Eltern soziale und steuerliche Vergünstigungen gewährt würden, solle ein Teil der Aufwendungen für die Lebenshaltung der unterhaltsberechtigten Kinder ausgeglichen werden. Um dieses Ziel zu erreichen, müsse zwischen der Situation der Arbeitnehmer, deren Kinder im Ausland wohnten, und der Situation der Arbeitnehmer, deren Kinder in Österreich wohnten, unterschieden werden. Diese Situationen seien wegen der unterschiedlichen Lebenshaltungskosten in den Mitgliedstaaten sachlich nicht vergleichbar. Der Anpassungsmechanismus führe zu keiner Ungleichbehandlung gleicher Sachverhalte, sondern stelle sicher, dass ungleiche Sachverhalte entsprechend differenziert behandelt würden.

73

Die Republik Österreich führt mehrere Beispiele für Mechanismen zur Anpassung von Familienleistungen an den Wohnort an, die insbesondere im Hinblick auf das Unionsrecht als zulässig angesehen würden. Sie macht, unterstützt durch das Königreich Dänemark, geltend, dass nach Auffassung des Europäischen Ausschusses für soziale Rechte, der die Anwendung der am 18. Oktober 1961 in Turin unterzeichneten Europäischen Sozialcharta und ihrer Änderung vom 3. Mai 1996 überwache, das in Art. 12 Abs. 4 dieser Charta verankerte Gebot der Gleichbehandlung einen Staat nicht daran hindere, die Leistungen der sozialen Sicherheit für ein Kind anzupassen, das in einem anderen Staat mit deutlich niedrigeren Lebenshaltungskosten wohne.

74

Nach Ansicht der Republik Österreich ist der Anpassungsmechanismus mit dem im Statut der Beamten der Europäischen Union vorgesehenen Berichtigungskoeffizienten vergleichbar, der den unterschiedlichen Lebenshaltungskosten in den Mitgliedstaaten Rechnung trage, um sicherzustellen, dass die Beamten unabhängig von ihrem Dienstort über die gleiche Kaufkraft verfügten. Das Erasmus+-Programm enthalte eine vergleichbare Regelung, um die Höhe des Zuschusses für die Aufenthalts- und Reisekosten der Studenten anzupassen.

75

Außerdem ergebe sich aus den Schlussfolgerungen des Rates vom 9. Oktober 2020 betreffend die Stärkung der Mindestsicherung zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung in der COVID-19-Pandemie und darüber hinaus (11721/2/20), insbesondere aus dem Verweis auf die Empfehlung 92/441/EWG des Rates vom 24. Juni 1992 über gemeinsame Kriterien für ausreichende Zuwendungen und Leistungen im Rahmen der Systeme der sozialen Sicherung (ABl. 1992, L 245, S. 46), dass bei der Gewährung von Leistungen, mit denen ein bestimmter Bedarf gedeckt werden solle, der Lebensstandard und das Preisniveau im Aufenthaltsstaat entsprechend zu berücksichtigen seien.

76

Entgegen der Behauptung der Kommission seien die Unterschiede in der Kaufkraft oder im Preisniveau innerhalb Österreichs im Vergleich zu den zwischen den Mitgliedstaaten bestehenden sehr gering. Eine Anpassung der Familienleistungen nach den Regionen innerhalb eines Mitgliedstaats würde zu Schwierigkeiten führen, die es rechtfertigten, auf die Berechnung eines Durchschnittswerts pro Staat durch Eurostat zurückzugreifen. Dies biete den Vorteil, ein objektives Kriterium zu sein, das die Prüfung der Fälle vermeide, in denen im Vergleich zu der Situation, die z. B. in Deutschland oder Italien vorherrsche, geringe Kaufkraftunterschiede bestünden.

77

Sodann habe der Gerichtshof bereits anerkannt, dass es zulässig sei, einheitliche Beträge für größere Regionen festzulegen (Urteil vom 24. Februar 2015, Sopora, C‑512/13, EU:C:2015:108, Rn. 34), und dass Unterschiede in den Lebenshaltungskosten zwischen Mitgliedstaaten ein zulässiges Differenzierungskriterium darstellen könnten (Urteile vom 17. Juli 1963, Italien/Kommission, 13/63, EU:C:1963:20, und vom 18. September 2014, Bundesdruckerei, C‑549/13, EU:C:2014:2235, Rn. 34).

78

Die Republik Österreich tritt dem Vorbringen der Kommission entgegen, dass der Anpassungsmechanismus insofern eine mittelbare Diskriminierung darstelle, als er nicht für Kinder gelte, die in einem Staat wohnten, in den ein Elternteil mit österreichischem Beamtenstatus entsandt worden sei. Die Situation eines entsandten Beamten sei weder rechtlich noch sachlich mit der eines Wanderarbeitnehmers vergleichbar.

79

Zum einen würden das Völkerrecht, das Unionsrecht und das nationale Recht die Besonderheit der Situation der ins Ausland entsandten Beamten anerkennen. Aus Art. 45 Abs. 4 AEUV sowie aus Art. 11 Abs. 3 Buchst. b und Art. 13 Abs. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 ergebe sich, dass ins Ausland entsandte Beamte in den Empfangsstaaten keinen Anspruch auf dortige Familienleistungen hätten und damit auch keinen Anspruch auf Differenzzahlungen beziehungsweise zusätzliche Familienleistungen. Darüber hinaus gälten nach österreichischem Recht ins Ausland entsandte Beamte für die Zwecke ihrer Sozialversicherung und für ihre steuerliche Behandlung als im Inland tätige Personen. In bürgerlichen Rechtssachen hätten sie weiterhin den allgemeinen Gerichtsstand in Österreich.

80

Zum anderen unterscheide sich die Situation der Wanderarbeitnehmer von jener der Beamten dadurch, dass die Versetzungen im Inland oder ins Ausland essenzieller Bestandteil ihrer Tätigkeit seien. Zwar übersiedelten die Partner und Kinder von ins Ausland entsandten Beamten im Regelfall mit diesen, der Wohnsitz und der Mittelpunkt der Lebensinteressen der Familie verblieben jedoch in der Regel in Österreich.

81

Wenn man ins Ausland entsandte Beamte und Wanderarbeitnehmer als zwei vergleichbare Gruppen qualifizierte, würden Auslandsbeamte dadurch, dass sie vom Anpassungsmechanismus ausgenommen seien, gegenüber Wanderarbeitnehmern benachteiligt. Bei dem Großteil der österreichischen Beamten, die in andere Mitgliedstaaten, in die Schweiz oder in das Hoheitsgebiet von Vertragsparteien des EWR-Abkommens entsandt würden, seien die Lebenshaltungskosten nämlich höher als in Österreich.

82

Für den Fall, dass der Gerichtshof davon ausgehen sollte, dass die für ins Ausland entsandte österreichische Beamte geltende Regelung eine mittelbare Diskriminierung darstelle, macht die Republik Österreich geltend, dass eine solche Diskriminierung durch die Fürsorgepflicht des Staates gegenüber diesen Beamten und die damit zusammenhängende Pflicht der Beamten zur Treue gegenüber dem Staat gerechtfertigt wäre, da es sich bei diesen Pflichten um zwingende Gründe des Allgemeininteresses handle.

83

Außerdem macht die Republik Österreich geltend, wenn die Kommission nunmehr behaupten wolle, dass die österreichische Regelung inkohärent sei, sei diese Rüge unzulässig, da sie in der mit Gründen versehenen Stellungnahme nicht erhoben worden sei.

84

Jedenfalls sei diese Rüge unbegründet. Die für ins Ausland entsandte österreichische Beamte geltende Regelung weiche zwar von der in Österreich geltenden allgemeinen Regelung ab, sei aber Teil eines kohärenten Systems, das sich auf das Völkerrecht und das Unionsrecht gründe. Diese Regelung betreffe etwa 400 ins Ausland entsandte österreichische Beamte im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei des EWR-Abkommens oder der Schweiz. Nur ein Teil dieser Beamten beziehe Familienbeihilfe. Daher sei die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu berücksichtigen, wonach nicht jede Ausnahme von einer nationalen Regelung zu deren Inkohärenz führe. Ausnahmevorschriften, die einen besonders engen Anwendungsbereich hätten, vermöchten keinen Schluss auf eine bestehende Inkohärenz zu begründen (Urteil vom 19. Mai 2009, Kommission/Italien, C‑531/06, EU:C:2009:315, Rn. 69 und 73).

85

Hilfsweise macht die Republik Österreich geltend, selbst wenn eine mittelbare Diskriminierung festgestellt werden sollte, wäre diese durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt und ginge nicht über das hinaus, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich wäre.

86

Als Erstes habe die Kommission nicht nachgewiesen, dass der österreichische Gesetzgeber das spezifische Ziel der Budgeteinsparungen verfolgt habe. Diese Behauptung der Kommission werde durch die Gesetzesmaterialen zur Einführung des Anpassungsmechanismus, insbesondere durch die wirkungsorientierte Folgenabschätzung widerlegt.

87

Als Zweites macht die Republik Österreich in Bezug auf die Familienbeihilfe und den Kinderabsetzbetrag geltend, dass die Einführung des Anpassungsmechanismus insofern erforderlich geworden sei, als diese Familienleistungen ihr Ziel, einen Teil der mit der Lebenshaltung von Kindern typischerweise verbundenen Kosten zu decken, nicht mehr erfüllten, weil ihr Betrag undifferenziert in Mitgliedstaaten mit einem anderen Preisniveau als in der Republik Österreich exportiert werde. Der Anpassungsmechanismus habe nämlich darauf abgezielt, die Funktion des Beitrags zu den Lebenshaltungskosten von Kindern (Unterhaltsfunktion) und die Ausgewogenheit des Sozialsystems wiederherzustellen. Um dieses sozialpolitische Ziel zu erreichen, sei es erforderlich gewesen, dafür zu sorgen, dass es nicht wegen der betragsmäßig undifferenzierten Auszahlung der Familienbeihilfe zu einer Überversorgung oder einer Unterversorgung komme. Da der Anpassungsmechanismus eine Erhöhung oder eine Kürzung der in Österreich gezahlten Beträge entsprechend dem Preisniveau im Wohnmitgliedstaat des unterhaltsberechtigten Kindes vorsehe, stelle er sicher, dass tatsächlich jedem Kind wertmäßig die gleiche Leistung zuteilwerde. Dies sei nicht nur verhältnismäßig, sondern stehe auch mit dem zwölften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 883/2004 im Einklang, wonach sichergestellt werden solle, dass der Grundsatz der Gleichstellung von Sachverhalten oder Ereignissen nicht zu sachlich nicht zu rechtfertigenden Ergebnissen führe.

88

Als Drittes trägt die Republik Österreich in Bezug auf den Familienbonus Plus und die anderen Absetzbeträge vor, dass mit dem Anpassungsmechanismus sichergestellt werde, dass die tatsächlichen Aufwendungen gleichmäßig berücksichtigt würden und alle steuerpflichtigen Erwerbstätigen mit Kindern hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit gleichgestellt seien. Dieser Mechanismus trage nämlich dem Gleichbehandlungsgrundsatz und dem Leistungsfähigkeitsprinzip Rechnung. Das Leistungsfähigkeitsprinzip, das in den nationalen Rechtsordnungen verankert sei, finde seine Grundlage im Unionsrecht im Bereich der direkten Steuern und stelle einen allgemeinen Grundsatz des Steuerrechts der Union dar. Der Gerichtshof habe die Vergleichbarkeit zweier Sachverhalte im Zusammenhang mit Zulagen für Auslandsentsendungen mit der Begründung abgelehnt, dass „eine solche Vergleichbarkeit im Licht des mit der Anwendung eines progressiven Steuertarifs verfolgten Zwecks nicht gegeben ist, der … notwendigerweise auf einer Bewertung der Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen auf der Grundlage der Lebensbedingungen in dem betreffenden Mitgliedstaat beruht“ (Urteil vom 15. September 2011, Schulz-Delzers und Schulz, C‑240/10, EU:C:2011:591, Rn. 37).

89

Als Viertes macht die Republik Österreich geltend, dass der Anpassungsmechanismus sicherstelle, dass wertmäßig die gleiche Unterstützung bzw. Entlastung gewährt werde, und deshalb nicht über das hinausgehe, was zur Erreichung des Ziels erforderlich sei.

90

Entgegen dem Vorbringen der Kommission sei der zusätzliche Verwaltungsaufwand, der sich durch den Anpassungsmechanismus ergebe, sehr beschränkt. Für die Zwecke der Erhebung des nach der Verordnung Nr. 883/2004 zuständigen Staates müsse nämlich in einer großen Zahl von Fällen ohnedies festgestellt werden, in welchem Staat das betreffende Kind seinen Wohnsitz habe. Die Zahl jener Kinder in anderen Mitgliedstaaten, für die Anspruch auf Familienbeihilfe bestehe, sei in den Jahren 2002 bis 2016 von etwa 1500 auf etwa 130000 Kinder gestiegen. Der Rechnungshof habe festgestellt, dass die Fälle mit Auslandsbezug „aufgrund der Risikoqualifizierung öfter als Inlandssachverhalte kontrolliert wurden“.

91

Die Republik Österreich weist darauf hin, dass die Differenzzahlungen, die sie für in anderen Mitgliedstaaten wohnhafte Kinder zahle, oft höher seien als die Primärleistungen im Wohnsitzstaat der Kinder.

92

Die Republik Österreich bestreitet, dass es unfair sei, dass Arbeitnehmer zwar in Österreich Steuern und Beiträge zahlten und damit zur Finanzierung der Familienleistungen sowie sozialen und steuerlichen Vergünstigungen beitrügen, sie letztlich aber nur wertmäßig angepasste Leistungen für ihre in einem anderen Mitgliedstaat wohnhaften Kinder erhielten. Die Bemessungsgrundlage für die Arbeitgeberbeiträge sei ohne Belang. Es bestehe kein Zusammenhang zwischen Steuerpflicht und der Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen.

Würdigung durch den Gerichtshof

93

[Berichtigt durch Beschluss vom 6. September 2022] Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71, der im Wesentlichen denselben Wortlaut wie Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 hatte, entsprechend Art. 39 EG (jetzt Art. 45 AEUV) zugunsten der Personen, für die die Verordnung galt, die Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit ohne Unterscheidung nach der Staatsangehörigkeit dadurch sicherstellen sollte, dass er alle Diskriminierungen beseitigt, die sich insoweit aus den nationalen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten ergeben (Urteil vom 22. Juni 2011, Landtová, C‑399/09, EU:C:2011:415, Rn. 42).

94

Der in Art. 45 AEUV verankerte Gleichbehandlungsgrundsatz wird auch in Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 konkretisiert, der klarstellt, dass ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen genießt wie die inländischen Arbeitnehmer, wobei diese Bestimmung ebenso auszulegen ist wie Art. 45 AEUV (Urteil vom 2. April 2020, Caisse pour l’avenir des enfants [Kind des Ehegatten eines Grenzgängers], C‑802/18, EU:C:2020:269, Rn. 24 und 70 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

95

Der durch Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 auf Arbeitnehmer, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, erstreckte Begriff der „sozialen Vergünstigung“ umfasst alle Vergünstigungen, die – ob sie an einen Arbeitsvertrag anknüpfen oder nicht – den inländischen Arbeitnehmern im Allgemeinen gewährt werden, und zwar hauptsächlich wegen ihrer objektiven Arbeitnehmereigenschaft oder einfach wegen ihres Wohnorts im Inland, und deren Erstreckung auf die Arbeitnehmer, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind, deshalb als geeignet erscheint, deren Mobilität innerhalb der Union und daher auch ihre Integration im Aufnahmemitgliedstaat zu fördern, und dieser Begriff der sozialen Vergünstigung darf nicht eng ausgelegt werden (Urteil vom 2. April 2020, Caisse pour l’avenir des enfants [Kind des Ehegatten eines Grenzgängers], C‑802/18, EU:C:2020:269, Rn. 25 und 29 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

96

Des Weiteren ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass bestimmte Leistungen sowohl Familienleistungen im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der Verordnung Nr. 883/2004 als auch soziale Vergünstigungen im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 bilden können (Urteil vom 2. April 2020, Caisse pour l’avenir des enfants [Kind des Ehegatten eines Grenzgängers], C‑802/18, EU:C:2020:269, Rn. 45 und 46 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

97

Wie der Generalanwalt in Nr. 124 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist im vorliegenden Fall unstreitig, dass die Familienbeihilfe und der Kinderabsetzbetrag sowohl Familienleistungen, die dem Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 unterliegen, als auch soziale Vergünstigungen, die in den Anwendungsbereich von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 fallen, sind, während der Familienbonus Plus, der Alleinverdienerabsetzbetrag, der Alleinerzieherabsetzbetrag und der Unterhaltsabsetzbetrag nur dem Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 unterliegen.

98

Jedenfalls konkretisieren sowohl Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 als auch Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 den in Art. 45 AEUV verankerten Grundsatz der Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit. Daher sind diese beiden Bestimmungen grundsätzlich in gleicher Weise und im Einklang mit Art. 45 AEUV auszulegen.

99

Eine auf dem Wohnsitz beruhende Unterscheidung, die sich stärker zum Nachteil der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten auswirken kann, da Gebietsfremde meist Ausländer sind, stellt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine mittelbare Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit dar, die nur dann zulässig wäre, wenn sie objektiv gerechtfertigt ist (Urteil vom 2. April 2020, Caisse pour l’avenir des enfants [Kind des Ehegatten eines Grenzgängers], C‑802/18, EU:C:2020:269, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).

100

Im vorliegenden Fall bewirkt der Anpassungsmechanismus, dass sich die Höhe der Familienleistungen und der sozialen Vergünstigungen, auf die er abzielt, nach dem Preisniveau am Wohnort der Kinder ändert. Anpassungen nach oben oder unten werden daher nur vorgenommen, wenn das Kind nicht in Österreich wohnt. Unter diesen Umständen lässt sich die unmittelbare Verbindung zum Wohnstaat der Kinder nicht bestreiten.

101

Wie der Generalanwalt in den Nrn. 130 und 131 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, betrifft die Verringerung der Familienleistungen sowie der sozialen und steuerlichen Vergünstigungen, die sich aus dem im Anpassungsmechanismus festgelegten Kriterium des Wohnsitzes der Kinder ergibt, im Wesentlichen die Wanderarbeitnehmer, da insbesondere ihre Kinder in einem anderen Mitgliedstaat wohnen können (Urteil vom 20. Juni 2013, Giersch u. a., C‑20/12, EU:C:2013:411, Rn. 44). Außerdem lässt sich der dem Gerichtshof vorliegende Akte entnehmen, dass aufgrund der Unterschiede bei den Lebenshaltungskosten in diesen Staaten im Vergleich zu jenen in Österreich, die sich in den in der Anpassungsverordnung enthaltenen Anpassungsfaktoren widerspiegeln, die Arbeitnehmer, die von diesen Staaten aus von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, Familienleistungen sowie soziale und steuerliche Vergünstigungen großteils in geringerer Höhe erhalten als inländische Arbeitnehmer.

102

Zum Vorbringen der Republik Österreich, der Anpassungsmechanismus stelle angesichts der Unterschiede im Preisniveau im Vergleich zu den betreffenden Staaten sicher, dass ungleiche Sachverhalte auch entsprechend differenziert behandelt würden, genügt der Hinweis, dass die dem Anpassungsmechanismus unterliegenden Familienleistungen sowie sozialen und steuerlichen Vergünstigungen nicht nach Maßgabe der tatsächlichen Kosten für den Unterhalt der Kinder festgesetzt werden. Diese Leistungen und Vergünstigungen werden nämlich pauschal gewährt und richten sich nach der Zahl und gegebenenfalls dem Alter der Kinder, ohne deren tatsächlichen Bedürfnissen Rechnung zu tragen.

103

Folglich betrifft der Anpassungsmechanismus, nach dem das für die Höhe der Familienleistungen sowie der sozialen und steuerlichen Vergünstigungen maßgebliche Kriterium der Auslandswohnsitz der Kinder ist, Wanderarbeitnehmer stärker. Er stellt daher eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit dar, die nur zulässig ist, wenn sie objektiv gerechtfertigt ist.

104

Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass eine solche mittelbare Diskriminierung dann gerechtfertigt ist, wenn sie geeignet ist, die Verwirklichung eines legitimen Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (Urteil vom 2. April 2020, Caisse pour l’avenir des enfants [Kind des Ehegatten eines Grenzgängers], C‑802/18, EU:C:2020:269, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).

105

Die von der Republik Österreich angeführte Rechtfertigung, wonach mit der Anpassung der Höhe der Leistungen für gebietsfremde Kinder sichergestellt werden solle, dass die Unterstützung und die daraus folgende Erleichterung der Familienlasten wertmäßig den für in Österreich wohnhaften Kindern gewährten Leistungen entsprächen, entbehrt aus den oben in Rn. 102 angeführten Gründen jeder Grundlage. Darüber hinaus unterliegen die in Rede stehenden Familienleistungen und sozialen Vergünstigungen, wie bereits oben in Rn. 52 ausgeführt worden ist, nicht dem Anpassungsmechanismus, wenn die Kinder in Österreich wohnen, obwohl zwischen den Regionen dieses Mitgliedstaats unstreitig Unterschiede im Preisniveau bestehen, die mit jenen vergleichbar sind, die möglicherweise zwischen der Republik Österreich und anderen Mitgliedstaaten bestehen. Diese mangelnde Kohärenz bei der Anwendung des Anpassungsmechanismus bestätigt, dass die von der Republik Österreich geltend gemachte Rechtfertigung nicht durchgreifen kann.

106

Außerdem kann die Ungleichbehandlung, die sich aus dem Anpassungsmechanismus ergibt, nicht mit dem von der Republik Österreich geltend gemachten Ziel der Gewährleistung der Unterhaltsfunktion sowie der Ausgewogenheit des Sozialsystems gerechtfertigt werden.

107

Zunächst ergibt sich nämlich, wie die Kommission im schriftlichen Verfahren vor dem Gerichtshof ausgeführt hat, aus dem Rechnungshofbericht weder, dass eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts besteht, der durch die bloße Einführung eines Anpassungsmechanismus abgeholfen werden könnte, noch, dass der Anpassungsmechanismus geeignet ist, die Verwaltung der Familienleistungen sowie der sozialen und steuerlichen Vergünstigungen zu vereinfachen. Denn selbst wenn man – wie die Republik Österreich – davon ausgeht, dass die zusätzlichen Kosten des Anpassungsmechanismus sehr beschränkt seien, ändert dies nichts daran, dass es solche zusätzlichen Kosten gibt. Wie der Generalanwalt in Nr. 142 seiner Schlussanträge zu Recht ausgeführt hat, wird jedoch nicht bestritten, dass diese Kosten von allen getragen werden, die Beiträge zum Staatshaushalt leisten. Außerdem lässt sich dem Rechnungshofbericht entnehmen, dass das Risiko einer Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit nicht von der Zahlung von Leistungen an Arbeitnehmer, deren Kinder außerhalb Österreichs wohnen, herrührt, da diese Leistungen nur etwa 6 % der Aufwendungen für Familienleistungen ausmachen, sondern dass dieses Risiko sich aus dem Fehlen einer angemessenen Kontrolle in Bezug auf die Gewährung dieser Leistungen ergeben könnte.

108

Sodann beruht die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union auf einer Reihe von Grundsätzen, darunter dem der Gleichbehandlung. Seine Umsetzung im Bereich der sozialen Sicherheit wird zudem durch eine Unionsregelung gewährleistet, die insbesondere auf dem Grundsatz der Anwendbarkeit nur eines Rechts in diesem Bereich beruht. Mit diesem in Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 verankerten Grundsatz sollen Ungleichbehandlungen beseitigt werden, die bei Arbeitnehmern, die innerhalb der Union zu- und abwandern, die Folge einer teilweisen oder vollständigen Kumulierung der anwendbaren Rechtsvorschriften wären. Um die Gleichbehandlung aller im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats erwerbstätigen Personen am besten zu gewährleisten, unterliegt daher nach Art. 11 Abs. 3 dieser Verordnung eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, in der Regel den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats und muss nach Art. 4 dieser Verordnung dort die gleichen Leistungen erhalten wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats.

109

Schließlich hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass Wanderarbeitnehmer mit den Steuern und Sozialabgaben, die sie im Aufnahmemitgliedstaat aufgrund der dort von ihnen ausgeübten unselbständigen Erwerbstätigkeit entrichten, zur Finanzierung der sozialpolitischen Maßnahmen dieses Staats beitragen. Daher müssen ihnen diese Maßnahmen unter den gleichen Bedingungen zugutekommen wie inländischen Arbeitnehmern (Urteil vom 10. Juli 2019, Aubriet, C‑410/18, EU:C:2019:582, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dadurch wird die Bedeutung des Ansatzes bestätigt, wonach Wanderarbeitnehmer in Bezug auf Familienleistungen sowie steuerliche und soziale Vergünstigungen gleichbehandelt werden müssen.

110

Im vorliegenden Fall wird nicht bestritten, dass die österreichische Familienbeihilfe durch Arbeitgeberbeiträge finanziert wird, die auf der Grundlage des Gesamtbetrags der Löhne der von ihnen beschäftigten Arbeitnehmer berechnet werden, so dass der Wanderarbeitnehmer in gleicher Weise wie ein inländischer Arbeitnehmer an der Festsetzung der Höhe der von seinem Arbeitgeber gezahlten Beträge beteiligt ist, ohne dass es auf den Wohnort der Kinder der Arbeitnehmer ankommt. Gleiches gilt für den Familienbonus Plus und die anderen Absetzbeträge, die dem Anpassungsmechanismus unterliegen, da diese steuerlichen Vergünstigungen aus der Steuer auf die Einkommen der Arbeitnehmer finanziert werden, ohne danach zu unterscheiden, ob ihr Kind in Österreich wohnt oder nicht.

111

Unter diesen Umständen ist, wie der Generalanwalt in Nr. 146 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, davon auszugehen, dass die durch den Anpassungsmechanismus eingeführte unterschiedliche Behandlung je nach dem Wohnort des Kindes des betreffenden Arbeitnehmers weder geeignet noch erforderlich ist, um die Unterhaltsfunktion sowie die Ausgewogenheit des Sozialsystems zu gewährleisten.

112

Die zweite Rüge der Kommission ist daher ebenfalls begründet.

113

Nach alledem ist Folgendes festzustellen:

Die Republik Österreich hat durch die Einführung eines Anpassungsmechanismus in Bezug auf die Familienbeihilfe und den Kinderabsetzbetrag für Erwerbstätige, deren Kinder ständig in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 4 und 67 der Verordnung Nr. 883/2004 sowie aus Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 verstoßen.

Die Republik Österreich hat durch die Einführung eines Anpassungsmechanismus in Bezug auf den Familienbonus Plus, den Alleinverdienerabsetzbetrag, den Alleinerzieherabsetzbetrag und den Unterhaltsabsetzbetrag für Wanderarbeitnehmer, deren Kinder ständig in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 verstoßen.

Kosten

114

Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die Verurteilung der Republik Österreich beantragt hat und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

115

Gemäß Art. 140 Abs. 1 und 2 der Verfahrensordnung, wonach die Mitgliedstaaten, die Vertragsstaaten des EWR-Abkommens, die nicht Mitgliedstaaten sind, und die EFTA-Überwachungsbehörde ihre eigenen Kosten tragen, wenn sie dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, tragen die Tschechische Republik, das Königreich Dänemark, die Republik Kroatien, die Republik Polen, Rumänien, die Republik Slowenien und die Slowakische Republik sowie das Königreich Norwegen und die EFTA-Überwachungsbehörde ihre eigenen Kosten.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

 

1.

Die Republik Österreich hat durch die – auf die Änderung von § 8a des Bundesgesetzes betreffend den Familienlastenausgleich durch Beihilfen vom 24. Oktober 1967 in der durch das Bundesgesetz, mit dem das Familienlastenausgleichsgesetz 1967, das Einkommensteuergesetz 1988 und das Entwicklungshelfergesetz geändert werden, vom 4. Dezember 2018 geänderten Fassung und von § 33 des Bundesgesetzes über die Besteuerung des Einkommens natürlicher Personen vom 7. Juli 1988 in der durch das Jahressteuergesetz 2018 vom 14. August 2018 und das Bundesgesetz, mit dem das Familienlastenausgleichsgesetz 1967, das Einkommensteuergesetz 1988 und das Entwicklungshelfergesetz geändert werden, vom 4. Dezember 2018 geänderten Fassung zurückgehende – Einführung eines Anpassungsmechanismus in Bezug auf die Familienbeihilfe und den Kinderabsetzbetrag für Erwerbstätige, deren Kinder ständig in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 4 und 67 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit sowie aus Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union verstoßen.

 

2.

Die Republik Österreich hat durch die – auf die Änderung von § 8a des Bundesgesetzes betreffend den Familienlastenausgleich durch Beihilfen vom 24. Oktober 1967 in der durch das Bundesgesetz, mit dem das Familienlastenausgleichsgesetz 1967, das Einkommensteuergesetz 1988 und das Entwicklungshelfergesetz geändert werden, vom 4. Dezember 2018 geänderten Fassung und von § 33 des Bundesgesetzes über die Besteuerung des Einkommens natürlicher Personen vom 7. Juli 1988 in der durch das Jahressteuergesetz 2018 vom 14. August 2018 und das Bundesgesetz, mit dem das Familienlastenausgleichsgesetz 1967, das Einkommensteuergesetz 1988 und das Entwicklungshelfergesetz geändert werden, vom 4. Dezember 2018 geänderten Fassung zurückgehende – Einführung eines Anpassungsmechanismus in Bezug auf den Familienbonus Plus, den Alleinverdienerabsetzbetrag, den Alleinerzieherabsetzbetrag und den Unterhaltsabsetzbetrag für Wanderarbeitnehmer, deren Kinder ständig in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 verstoßen.

 

3.

Die Republik Österreich trägt neben ihren eigenen Kosten die der Europäischen Kommission entstandenen Kosten.

Die Tschechische Republik, das Königreich Dänemark, die Republik Kroatien, die Republik Polen, Rumänien, die Republik Slowenien und die Slowakische Republik sowie das Königreich Norwegen und die EFTA-Überwachungsbehörde tragen ihre eigenen Kosten.

 

Prechal

Passer

Biltgen

Wahl

Arastey Sahún

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 16. Juni 2022.

Der Kanzler

A. Calot Escobar

Die Präsidentin der Zweiten Kammer

A. Prechal


( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.

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