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Document 62006CJ0230

Urteil des Gerichtshofes (Dritte Kammer) vom 3. April 2008.
Militzer & Münch GmbH gegen Ministero delle Finanze.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Corte suprema di cassazione - Italien.
Zollunion - Gemeinschaftliches Versandverfahren - Erhebung der Zollschuld - Zuständiger Mitgliedstaat - Nachweis der ordnungsgemäßen Durchführung des Verfahrens oder des Ortes der Zuwiderhandlung - Fristen - Haftung des Hauptverpflichteten.
Rechtssache C-230/06.

European Court Reports 2008 I-01895

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2008:186

Parteien
Entscheidungsgründe
Tenor

Parteien

In der Rechtssache C‑230/06

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Italien) mit Entscheidung vom 12. Januar 2006, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Mai 2006, in dem Verfahren

Militzer & Münch GmbH

gegen

Ministero delle Finanze

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Rosas, der Richter U. Lõhmus, J. N. Cunha Rodrigues und A. Ó Caoimh sowie der Richterin P. Lindh (Berichterstatterin),

Generalanwältin: V. Trstenjak,

Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. Dezember 2007,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der Militzer & Münch GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt W. Wielander,

– der italienischen Regierung, vertreten durch I. M. Braguglia als Bevollmächtigten im Beistand von G. Albenzio, avvocato dello Stato,

– der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch J. Hottiaux und C. Zadra als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe

1. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Art. 215 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. L 302, S. 1, im Folgenden: Zollkodex) und der Art. 378 und 379 der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission vom 2. Juli 1993 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung Nr. 2913/92 (ABl. L 253, S. 1, im Folgenden: Durchführungsverordnung) sowie die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.

2. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Militzer & Münch GmbH (im Folgenden: M & M) und dem Ministero delle Finanze über die Erhebung von Zöllen.

Rechtlicher Rahmen

3. Art. 96 des Zollkodex lautet:

„(1) Der Hauptverpflichtete ist der Inhaber des externen gemeinschaftlichen Versandverfahrens. Er hat

a) die Waren innerhalb der vorgeschriebenen Frist unter Beachtung der von den Zollbehörden zur Nämlichkeitssicherung getroffenen Maßnahmen unverändert der Bestimmungszollstelle zu gestellen;

b) die Vorschriften über das gemeinschaftliche Versandverfahren einzuhalten.

(2) Unbeschadet der Pflichten des Hauptverpflichteten nach Absatz 1 ist ein Warenführer oder Warenempfänger, der die Waren annimmt und weiß, dass sie dem gemeinschaftlichen Versandverfahren unterliegen, auch verpflichtet, sie innerhalb der vorgeschriebenen Frist unter Beachtung der von den Zollbehörden zur Nämlichkeitssicherung getroffenen Maßnahmen unverändert der Bestimmungszollstelle zu gestellen.“

4. Die Art. 203 und 204 des Zollkodex sehen vor:

„ Artikel 203

(1) Eine Einfuhrzollschuld entsteht,

– wenn eine einfuhrabgabenpflichtige Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen wird.

(2) Die Zollschuld entsteht in dem Zeitpunkt, in dem die Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen wird.

(3) Zollschuldner sind:

– die Person, welche die Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen hat;

– die Personen, die an dieser Entziehung beteiligt waren, obwohl sie wussten oder billigerweise hätten wissen müssen, dass sie die Ware der zollamtlichen Überwachung entziehen;

– die Personen, welche die betreffende Ware erworben oder im Besitz gehabt haben, obwohl sie im Zeitpunkt des Erwerbs oder Erhalts der Ware wussten oder billigerweise hätten wissen müssen, dass diese der zollamtlichen Überwachung entzogen worden war;

– gegebenenfalls die Person, welche die Verpflichtungen einzuhalten hatte, die sich aus der vorübergehenden Verwahrung einer einfuhrabgabenpflichtigen Ware oder aus der Inanspruchnahme des betreffenden Zollverfahrens ergeben.

Artikel 204

(1) Eine Einfuhrzollschuld entsteht, wenn in anderen als den in Artikel 203 genannten Fällen

a) eine der Pflichten nicht erfüllt wird, die sich bei einer einfuhrabgabenpflichtigen Ware aus deren vorübergehender Verwahrung oder aus der Inanspruchnahme des Zollverfahrens, in das sie übergeführt worden ist, ergeben, oder

b) eine der Voraussetzungen für die Überführung einer Ware in das betreffende Verfahren oder für die Gewährung eines ermäßigten Einfuhrabgabensatzes oder einer Einfuhrabgabenfreiheit aufgrund der Verwendung der Ware zu besonderen Zwecken nicht erfüllt wird,

es sei denn, dass sich diese Verfehlungen nachweislich auf die ordnungsgemäße Abwicklung der vorübergehenden Verwahrung oder des betreffenden Zollverfahrens nicht wirklich ausgewirkt haben.

(2) Die Zollschuld entsteht in dem Zeitpunkt, in dem die Pflicht, deren Nichterfüllung die Zollschuld entstehen lässt, nicht mehr erfüllt wird, oder dem Zeitpunkt, in dem die Ware in das betreffende Zollverfahren übergeführt worden ist, wenn sich nachträglich herausstellt, dass eine der Voraussetzungen für die Überführung dieser Ware in das Verfahren oder für die Gewährung eines ermäßigten Einfuhrabgabensatzes oder einer Einfuhrabgabenfreiheit aufgrund der Verwendung der Ware zu besonderen Zwecken nicht wirklich erfüllt war.

(3) Zollschuldner ist die Person, welche die Pflichten zu erfüllen hat, die sich bei einer einfuhrabgabenpflichtigen Ware aus deren vorübergehender Verwahrung oder aus der Inanspruchnahme des betreffenden Zollverfahrens ergeben, oder welche die Voraussetzungen für die Überführung der Ware in dieses Zollverfahren zu erfüllen hat.“

5. Art. 215 des Zollkodex bestimmt:

„(1) Die Zollschuld entsteht an dem Ort, an dem der Tatbestand, der die Zollschuld entstehen lässt, eingetreten ist.

(2) Kann der Ort im Sinne des Absatzes 1 nicht bestimmt werden, gilt die Zollschuld als an dem Ort entstanden, an dem die Zollbehörden feststellen, dass die Ware sich in einer Lage befindet, die eine Zollschuld hat entstehen lassen.

(3) In dem Fall, in dem das Zollverfahren für eine Ware nicht erledigt worden ist, gilt die Zollschuld als an dem Ort entstanden,

– an dem die Ware in das Verfahren übergeführt worden ist oder

– an dem die Ware im Rahmen des betreffenden Verfahrens in die Gemeinschaft eingeführt wird.

(4) Können die Zollbehörden aus ihnen bekannten Umständen schließen, dass die Zollschuld bereits entstanden war, als sich die Ware noch an einem anderen Ort befand, so gilt die Zollschuld als an dem Ort entstanden, an dem sich die Ware aufgrund der Feststellungen zu dem am weitesten zurückliegenden Zeitpunkt, für den das Bestehen der Zollschuld nachgewiesen werden kann, befand.“

6. Art. 239 des Zollkodex lautet:

„(1) Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben können in anderen als den in den Artikeln 236, 237 und 238 genannten Fällen erstattet oder erlassen werden; diese Fälle

– werden nach dem Ausschussverfahren festgelegt;

– ergeben sich aus Umständen, die nicht auf betrügerische Absicht oder offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten zurückzuführen sind. Nach dem Ausschussverfahren wird festgelegt, in welchen Fällen diese Bestimmung angewandt werden kann und welche Verfahrensvorschriften dabei zu beachten sind. Die Erstattung oder der Erlass kann von besonderen Voraussetzungen abhängig gemacht werden.

(2) Die Erstattung oder der Erlass der Abgaben aus den in Absatz 1 genannten Gründen erfolgt auf Antrag; dieser ist innerhalb von zwölf Monaten nach der Mitteilung der Abgaben an den Zollschuldner bei der zuständigen Zollstelle zu stellen.

Jedoch können

– in begründeten Ausnahmefällen die Zollbehörden diese Frist verlängern,

– in bestimmten Fällen kürzere Fristen im Ausschussverfahren festgelegt werden.“

7. In Art. 378 der Durchführungsverordnung heißt es:

„(1) Ist die Sendung nicht der Bestimmungsstelle gestellt worden und kann der Ort der Zuwiderhandlung nicht ermittelt werden, so gilt diese Zuwiderhandlung unbeschadet des Artikels 215 des Zollkodex

– als in dem Mitgliedstaat begangen, zu dem die Abgangsstelle gehört, oder

– als in dem Mitgliedstaat begangen, zu dem die Eingangszollstelle der Gemeinschaft gehört, bei der ein Grenzübergangsschein abgegeben worden ist,

es sei denn, die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens oder der Ort, an dem die Zuwiderhandlung tatsächlich begangen worden ist, wird den Zollbehörden innerhalb der Frist nach Artikel 379 Absatz 2 nachgewiesen.

(2) Gilt die Zuwiderhandlung in Ermangelung eines solchen Nachweises als in dem Abgangsmitgliedstaat oder in dem Eingangsmitgliedstaat im Sinne des Absatzes 1 zweiter Gedankenstrich begangen, so werden die für die betreffenden Waren geltenden Zölle und anderen Abgaben von diesem Mitgliedstaat nach den gemeinschaftlichen oder innerstaatlichen Vorschriften erhoben.

…“

8. Art. 379 der Durchführungsverordnung bestimmt:

„(1) Ist eine Sendung der Bestimmungsstelle nicht gestellt worden und kann der Ort der Zuwiderhandlung nicht ermittelt werden, so teilt die Abgangsstelle dies dem Hauptverpflichteten so schnell wie möglich, spätestens jedoch vor Ablauf des elften Monats nach dem Zeitpunkt der Registrierung der Versandanmeldung mit.

(2) In der Mitteilung nach Absatz 1 ist insbesondere die Frist anzugeben, innerhalb der bei der Abgangsstelle der Nachweis für die ordnungsgemäße Durchführung des Versandverfahrens oder der Nachweis über den tatsächlichen Ort der Zuwiderhandlung zu erbringen ist. Diese Frist beträgt drei Monate vom Zeitpunkt der Mitteilung nach Absatz 1 an gerechnet. Wird der genannte Nachweis nicht erbracht, so erhebt der zuständige Mitgliedstaat nach Ablauf dieser Frist die betreffenden Zölle und anderen Abgaben. Ist dieser Mitgliedstaat nicht der Mitgliedstaat, in dem sich die Abgangsstelle befindet, so unterrichtet er letzteren unverzüglich von der Erhebung der Zölle und anderen Abgaben.“

9. Diese Bestimmungen des Art. 379 der Durchführungsverordnung entsprechen im Wesentlichen denen des Art. 11 der Verordnung (EWG) Nr. 1062/87 der Kommission vom 27. März 1987 zur Durchführung und Vereinfachung des gemeinschaftlichen Versandverfahrens (ABl. L 107, S. 1) in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 1429/90 der Kommission vom 29. Mai 1990 (ABl. L 137, S. 21) (im Folgenden: Verordnung Nr. 1062/87) geänderten Fassung, die später in Art. 49 der Verordnung (EWG) Nr. 1214/92 der Kommission vom 21. April 1992 mit Durchführungsvorschriften sowie Maßnahmen zur Vereinfachung des gemeinschaftlichen Versandverfahrens (ABl. L 132, S. 1) übernommen wurden.

10. Art. 905 der Durchführungsverordnung hat folgenden Wortlaut:

„(1) Ist die Entscheidungszollbehörde, bei der ein Antrag auf Erstattung oder Erlass nach Artikel 239 Absatz 2 des Zollkodex gestellt worden ist, nicht in der Lage, nach Artikel 899 zu entscheiden, und lässt die Begründung des Antrags auf einen besonderen Fall schließen, der sich aus Umständen ergibt, bei denen weder eine betrügerische Absicht noch eine offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten vorliegt, so legt der Mitgliedstaat, zu dem diese Behörde gehört, den Fall der Kommission zur Behandlung nach dem Verfahren der Artikel 906 bis 909 vor.

Der Begriff ‚Beteiligte‘ ist in gleicher Weise wie in Artikel 899 auszulegen.

In allen anderen Fällen lehnt die Entscheidungszollbehörde den Antrag ab.

(2) Die der Kommission übermittelte Vorlage muss alle für eine vollständige Prüfung des Falles notwendigen Angaben enthalten.

Die Kommission bestätigt dem betreffenden Mitgliedstaat unverzüglich den Eingang der Vorlage.

Die Kommission kann zusätzliche Angaben anfordern, wenn sich herausstellt, dass die von dem Mitgliedstaat mitgeteilten Angaben nicht ausreichen, um in voller Kenntnis der Sachlage über den Fall zu entscheiden.

(3) Ohne den Abschluss des Verfahrens nach den Artikeln 906 bis 909 abzuwarten, kann die Entscheidungszollbehörde auf Antrag des Beteiligten zulassen, dass die Zollförmlichkeiten für die Wiederausfuhr der Waren oder für ihre Vernichtung oder Zerstörung erfüllt werden, bevor die Kommission über den Fall entschieden hat. Diese Bewilligung greift der endgültigen Entscheidung über den Antrag auf Erstattung oder Erlass in keiner Weise vor.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

11. M & M ist eine Zollspeditionsgesellschaft mit Sitz in Deutschland. Zwischen dem 23. April und dem 16. Juli 1993 stellte sie 20 gemeinschaftliche Versandscheine T 1 für Transporte von Butter aus der Tschechischen Republik von Waidhaus (Deutschland) zu den Bestimmungsorten Venedig und Mailand (Italien) aus.

12. Nachdem die mit Stempeln und Ordnungsnummern der Zollstellen Venedig und Mailand versehenen Durchschriften der Versandpapiere bei ihr eingegangen waren, beendete die Zollstelle Waidhaus diese Versandverfahren.

13. Später stellte der Zollfahndungsdienst der Guardia di Finanza fest, dass die Waren aufgrund eines Betrugs, mit dem M & M nichts zu tun hatte, an dem aber aller Wahrs cheinlichkeit nach italienische Zollbedienstete beteiligt waren, nicht am Bestimmungsort eingetroffen waren.

14. Am 17. November 1995 forderten die italienischen Zollbehörden M & M zur Zahlung von 4 601 255 310 ITL an Zöllen auf die versandten Waren auf.

15. Den Antrag von M & M nach Art. 239 des Zollkodex auf Erlass der Abgaben lehnten sie ab. Das Tribunale und später die Corte d’appello di Trento wiesen die Klage von M & M ab, die daraufhin Kassationsbeschwerde einlegte.

16. In einem von den Vereinigten Senaten am 27. September 2002 erlassenen Urteil entschied die Corte suprema di cassazione im Ausgangsverfahren, dass die Entscheidung der italienischen Behörden, den Antrag von M & M nach Art. 239 des Zollkodex auf Erlass der Abgaben abzulehnen, nicht gerichtlich überprüft werden könne, da sie „politische Entscheidungen enthält“. Im Übrigen wurde die Rechtssache zur Entscheidung über die weiteren Kassationsbeschwerdegründe an den Steuersenat dieses Gerichts verwiesen.

17. Unter diesen Umständen hat die Corte suprema di cassazione das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist Art. 11a Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1062/87 in der durch die Durchführungsverordnung geänderten Fassung dahin auszulegen, dass die Frist von 11 Monaten gilt, über die die Abgangszollstelle für die Mitteilung verfügt, dass das Zollverfahren für die Waren im gemeinschaftlichen Versandverfahren nicht erledigt worden ist, wenn die Erledigung durch die Bestimmungszollstelle mit gefälschten Unterlagen bescheinigt wird, deren Fälschung nicht leicht erkennbar ist? Sind für die Auslegung der erwähnten Bestimmung die Grundsätze anwendbar, die der Gerichtshof in den Urteilen vom 12. Dezember 2002, Cipriani (C‑395/00, Slg. 2002, I‑11877), und vom 29. April 2004, British American Tobacco (C‑222/01, Slg. 2004, I‑4683), aufgestellt hat? Verstößt es im erwähnten Fall gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn dem Zollspediteur sämtliche Folgen eines mit einer Unregelmäßigkeit behafteten Gemeinschaftsversandverfahrens auferlegt werden?

2. Ist auf den in Frage 1 beschriebenen Fall Art. 11a Abs. 2 anwendbar?

3. Ist Art. 215 Abs. 1 des Zollkodex dahin auszulegen, dass sich in dem in Frage 1 beschriebenen Fall die Zuständigkeit der Zollbehörde nach dem Kriterium im zweiten Teil oder im dritten Teil dieses Absatzes bestimmt?

Zu den Vorlagefragen

Vorbemerkungen

18. Zwischen M & M, der italienischen Regierung und der Kommission ist unstreitig, dass das vorlegende Gericht auf gemeinschaftsrechtliche Vorschriften abgestellt hat, die aufgrund ihrer intertemporalen Geltung nicht anwendbar sind; hinsichtlich der Bestimmung der anwendbaren Vorschriften bestehen jedoch unterschiedliche Meinungen. Nach Ansicht der italienischen Regierung ist auf die Vorschriften abzustellen, die im Jahr 1993 galten, als der Betrug begangen wurde. Damit wäre der zuständige Mitgliedstaat nach Art. 34 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 2726/90 des Rates vom 17. September 1990 über das gemeinschaftliche Versandverfahren (ABl. L 262, S. 1) zu bestimmen, der mit Wirkung vom 1. Januar 1994 aufgehoben wurde. Die Frage der Einhaltung der vor der Erhebung der Zollschuld geltenden Fristen ist nach Meinung der italienischen Regierung anhand von Art. 49 der Verordnung Nr. 1214/92 zu prüfen. Dass im Vorabentscheidungsersuchen Art. 11a der Verordnung Nr. 1062/87 genannt sei, obwohl dieser mit Wirkung vom 1. Januar 1993 aufgehoben worden sei, müsse zur teilweisen Unzulässigkeit des Ersuchens führen.

19. Es ist daran zu erinnern, dass der Gerichtshof, um dem Gericht, das ihm eine Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt hat, eine sachdienliche Antwort zu geben, auf gemeinschaftsrechtliche Vorschriften eingehen kann, die das vorlegende Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat (Urteile vom 27. März 1990, Bagli Pennacchiotti, C‑315/88, Slg. 1990, I‑1323, Randnr. 10, und vom 18. November 1999, Teckal, C‑107/98, Slg. 1999, I‑8121, Randnr. 39).

20. Im vorliegenden Fall vertreten M & M und die Kommission zutreffend die Ansicht, dass die Vorschriften maßgebend seien, die zur Zeit des von den italienischen Behörden am 17. November 1995 erlassenen Rückforderungsbescheids galten, dessen Rechtmäßigkeit im Ausgangsverfahren in Zweifel gezogen wird.

21. Da der Zollkodex und die Durchführungsverordnung seit dem 1. Januar 1994 gelten, ergibt sich daraus, dass das vorlegende Gericht den Gerichtshof mit dem ersten Teil seiner ersten Frage und mit seiner zweiten Frage um Auslegung der Voraussetzungen für die Anwendung der in Art. 379 der Durchführungsverordnung vorgesehenen Fristen, mit seiner dritten Frage um Auslegung der in Art. 215 des Zollkodex genannten Kriterien für die Bestimmung des für die Erhebung der Zollschuld zuständigen Mitgliedstaats sowie mit dem zweiten Teil seiner ersten Frage darum ersucht, sich zur Anwendung der Regelung über die Haftung des Hauptverpflichteten im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu äußern.

22. Zunächst ist die dritte Frage nach der Bestimmung des für die Erhebung der Zollschuld zuständigen Mitgliedstaats zu prüfen.

Zur dritten Frage

23. M & M und die Kommission sind der Meinung, dass der für die Erhebung der Zollschuld zuständige Mitgliedstaat nicht nach Art. 215 des Zollkodex, sondern nach Art. 378 Abs. 1 der Durchführungsverordnung zu bestimmen sei, der für die Zuweisung der Zuständigkeit auf dem Gebiet der Erhebung der Zollschuld im Rahmen des externen gemeinschaftlichen Versandverfahrens lex specialis sei. Grundsätzlich sei der Mitgliedstaat zuständig, zu dem die Abgangsstelle gehöre, da Art. 378 Abs. 1 der Durchführungsverordnung eine entsprechende Vermutung aufstelle, wenn zum einen die Sendung nicht der Bestimmungsstelle gestellt worden sei und zum anderen der Ort der Zuwiderhandlung nicht ermittelt werden könne. Im Ausgangsverfahren seien diese Voraussetzungen erfüllt, da der Ort, an dem die Waren der zollamtlichen Überwachung entzogen worden seien, nicht bestimmt worden sei und die Waren unstreitig nicht der Bestimmungsstelle gestellt worden seien.

24. Die italienische Regierung hält sich gemäß Art. 215 Abs. 2 des Zollkodex für zuständig, da die Zuwiderhandlung im italienischen Hoheitsgebiet begangen oder zumindest festgestellt worden sei.

25. Insoweit geht aus Art. 215 Abs. 1 des Zollkodex und aus den Art. 378 und 379 der Durchführungsverordnung hervor, dass durch die Bestimmung des Ortes der Entstehung der Zollschuld festgestellt werden kann, welcher Mitgliedstaat für die Erhebung der Zölle zuständig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Dezember 2007, Road Air Logistics Customs, C‑526/06, Slg. 2007, I‑0000, Randnr. 26). Im Fall eines Betrugs durch Begehung von Zuwiderhandlungen ist nach Art. 203 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 215 Abs. 1 des Zollkodex der Ort der Entstehung der Zollschuld derjenige, an dem die Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen wurde (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 1. Februar 2001, D. Wandel, C‑66/99, Slg. 2001, I‑873, Randnr. 50, und vom 11. Juli 2002, Liberexim, C‑371/99, Slg. 2002, I‑6227, Randnr. 52).

26. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist dieser Begriff der Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung so zu verstehen, dass er jede Handlung oder Unterlassung umfasst, die dazu führt, dass die zuständige Zollbehörde auch nur zeitweise am Zugang zu einer unter zollamtlicher Überwachung stehenden Ware und der Durchführung der in Art. 37 Abs. 1 des Zollkodex vorgesehenen Prüfungen gehindert wird (Urteile D. Wandel, Randnr. 47, Liberexim, Randnr. 55, und vom 12. Februar 2004, Hamann International, C‑337/01, Slg. 2004, I‑1791, Randnr. 31).

27. Die Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung setzt lediglich voraus, dass objektive Voraussetzungen, wie z. B. das körperliche Fehlen der Ware am zugelassenen Verwahrungsort, zu dem Zeitpunkt erfüllt sind, zu dem die Zollbehörde die Beschau dieser Ware vornehmen möchte (Urteile D. Wandel, Randnr. 48, und Liberexim, Randnr. 60), oder dass der Versandschein T1 von den Waren, auf die er sich bezieht, vorübergehend entfernt wird (Urteil British American Tobacco, Randnr. 53).

28. Werden mehrere Zuwiderhandlungen im Gebiet verschiedener Mitgliedstaaten vorgenommen, ist der Mitgliedstaat für die Erhebung der Zollschuld zuständig, in dessen Hoheitsgebiet die erste Zuwiderhandlung begangen wurde (vgl. entsprechend Urteil Liberexim, Randnr. 57).

29. Wie M & M und die Kommission zutreffend vorgetragen haben, regelt Art. 378 der Durchführungsverordnung speziell auf dem Gebiet des externen gemeinschaftlichen Versandverfahrens die Bestimmung des für die Erhebung der Zollschuld zuständigen Mitgliedstaats und enthält eine Vermutung für die Zuständigkeit des Mitgliedstaats, zu dem die Abgangsstelle gehört (Urteil vom 14. April 2005, Kommission/Deutschland, C‑104/02, Slg. 2005, I‑2689, Randnr. 86).

30. Nach Art. 378 Abs. 1 der Durchführungsverordnung gilt nämlich, wenn eine Sendung nicht der Bestimmungsstelle gestellt worden ist und der Ort der Zuwiderhandlung nicht hat ermittelt werden können, diese Zuwiderhandlung unbeschadet des Art. 215 des Zollkodex über die Bestimmung des Ortes der Entstehung der Zollschuld als in dem Mitgliedstaat begangen, zu dem die Abgangsstelle gehört, oder als in dem Mitgliedstaat begangen, zu dem die Eingangszollstelle der Gemeinschaft gehört, bei der ein Grenzübergangsschein abgegeben worden ist, es sei denn, die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens oder der Ort, an dem die Zuwiderhandlung tatsächlich begangen worden ist, wird innerhalb der Frist nach Art. 379 Abs. 2 der Durchführungsverordnung nachgewiesen (Urteil vom 20. Januar 2005, Honeywell Aerospace, C‑300/03, Slg. 2005, I‑689, Randnr. 21).

31. Die Anwendung des in Art. 379 der Durchführungsverordnung vorgesehenen Verfahrens setzt daher voraus, dass der Ort der Zuwiderhandlung von den Zollbehörden nicht ermittelt werden kann (Urteil vom 14. November 2002, SPKR, C‑112/01, Slg. 2002, I‑10655, Randnr. 35).

32. Bei der Prüfung der Zuständigkeit des Mitgliedstaats, der die Zölle erhoben hat, ist daher zu bestimmen, ob zu dem Zeitpunkt, zu dem festgestellt wurde, dass die Sendung der Bestimmungsstelle nicht gestellt worden ist, der Ort der Zuwiderhandlung ermittelt werden konnte. Ist dies der Fall, kann nach Art. 203 Abs. 1 und Art. 215 Abs. 1 des Zollkodex der Mitgliedstaat als für die Erhebung der Zollschuld zuständig bestimmt werden, in dessen Gebiet die erste Zuwiderhandlung begangen wurde, die sich als Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung qualifizieren lässt.

33. Konnte der Ort der Zuwiderhandlung hingegen nicht ermittelt werden, ist nach den Art. 378 und 379 der Durchführungsverordnung der Mitgliedstaat für die Erhebung der Zölle zuständig, zu dem die Abgangsstelle gehört.

34. Um im Ausgangsverfahren festzustellen, ob die italienischen Behörden für die Erhebung der in Rede stehenden Abgaben zuständig waren, hat das vorlegende Gericht unter Berücksichtigung aller maßgebenden, im Zeitpunkt der Feststellung, dass die Sendungen der Bestimmungsstelle nicht gestellt worden sind, vorliegenden Informationen zu prüfen, ob der Ort der Begehung der ersten Zuwiderhandlung, die sich als Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung qualifizieren lässt, ermittelt werden konnte. Ist dies nicht der Fall, führt die in Art. 378 Abs. 1 der Durchführungsverordnung vorgesehene Zuständigkeitsvermutung zugunsten des Mitgliedstaats, zu dem die Abgangsstelle gehört, dazu, die Bundesrepublik Deutschland als den für die Erhebung der Zollschuld zuständigen Mitgliedstaat zu bestimmen.

35. Diese Vermutung kann zugunsten der Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats nur dann widerlegt werden, wenn nachgewiesen wird, dass die erste Zuwiderhandlung tatsächlich im Hoheitsgebiet dieses letztgenannten Staats begangen wurde. Dieser Nachweis ist jedoch nach dem Verfahren des Art. 379 der Durchführungsverordnung den Behörden des Mitgliedstaats zu erbringen, zu dem die Abgangsstelle gehört, was insbesondere bedeutet, dass die in dieser Bestimmung vorgesehenen Fristen eingehalten werden.

36. Daher ist auf die dritte Frage zu antworten, dass es bei der Prüfung der Zuständigkeit des Mitgliedstaats, der die Zölle erhoben hat, Sache des vorlegenden Gerichts ist, zu bestimmen, ob zu dem Zeitpunkt, zu dem festgestellt wurde, dass die Sendung der Bestimmungsstelle nicht gestellt worden ist, der Ort der Zuwiderhandlung ermittelt werden konnte. Ist dies der Fall, kann nach Art. 203 Abs. 1 und Art. 215 Abs. 1 des Zollkodex der Mitgliedstaat als für die Erhebung der Zollschuld zuständig bestimmt werden, in dessen Gebiet die erste Zuwiderhandlung begangen wurde, die sich als Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung qualifizieren lässt. Konnte der Ort der Zuwiderhandlung hingegen nicht ermittelt werden, ist nach den Art. 378 und 379 der Durchführungsverordnung für die Erhebung der Zollschuld der Mitgliedstaat zuständig, zu dem die Abgangsstelle gehört.

Zum ersten Teil der ersten Frage und zur zweiten Frage

37. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob die Nichteinhaltung der in Art. 379 Abs. 1 und 2 der Durchführungsverordnung zugunsten des Hauptverpflichteten vorgesehenen Fristen von elf und von drei Monaten durch die Zollbehörden der Erhebung der Zollschuld entgegensteht.

38. Wie die italienische Regierung und die Kommission zu Recht ausgeführt haben, hindert die Nichteinhaltung der Frist von elf Monaten für sich allein nicht an der Erhebung der Zollschuld beim Hauptverpflichteten (Urteile SPKR, Randnrn. 27 bis 33, und Kommission/Deutschland, Randnr. 69).

39. Demgegenüber muss die Mitteilung der in Art. 379 Abs. 2 der Durchführungsverordnung vorgesehenen Frist von drei Monaten der Erhebung der Zollschuld durch die Zollbehörden zwingend vorausgehen (Urteile SPKR, Randnr. 32, Honeywell Aerospace, Randnrn. 23 und 24, und Kommission/Deutschland, Randnr. 71, Beschluss vom 6. April 2006, Reyniers & Sogama, C‑407/05, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 22, und Urteil vom 8. März 2007, Gerlach, C‑44/06, Slg. 2007, I‑2071, Randnr. 33).

40. Der Zweck dieser Fristen von elf und von drei Monaten besteht darin, zu gewährleisten, dass die Verwaltungsbehörden die Bestimmungen über die Erhebung der Zollschuld im Interesse einer schnellen Bereitstellung der Eigenmittel der Gemeinschaft sorgfältig und einheitlich anwenden (Urteile SPKR, Randnr. 34, und Kommission/Deutschland, Randnrn. 69 und 78). Die Frist von drei Monaten hat darüber hinaus auch den Zweck, die Interessen des Hauptverpflichteten dadurch zu schützen, dass ihm ausreichend Zeit eingeräumt wird, um gegebenenfalls den Nachweis für die ordnungsgemäße Durchführung des Versandverfahrens oder über den tatsächlichen Ort der Zuwiderhandlung zu erbringen (Urteile SPKR, Randnr. 38, und Honeywell Aerospace, Randnr. 24). Schließlich soll diese Frist von drei Monaten den Hauptverpflichteten dazu bewegen, innerhalb einer Ausschlussfrist die Beweise vorzulegen, über die er verfügt; das liegt im Interesse der zügigen Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Erhebung der Abgaben zuständig ist (Urteil vom 21. Oktober 1999, Lensing & Brockhausen, C‑233/98, Slg. 1999, I‑7349, Randnr. 30).

41. Schon dem Wortlaut der Art. 378 und 379 der Durchführungsverordnung ist zu entnehmen, dass es allein Sache der Abgangsstelle ist, unter Beachtung dieser Fristen von elf und von drei Monaten die vorgesehene Mitteilung vorzunehmen, falls eine Sendung der Bestimmungsstelle nicht gestellt worden ist und der Ort der Zuwiderhandlung nicht hat ermittelt werden können.

42. Daher ist auf den ersten Teil der ersten Frage und auf die zweite Frage zu antworten dass es allein Sache der Abgangsstelle ist, unter Beachtung der in Art. 379 Abs. 1 und 2 der Durchführungsverordnung genannten Fristen von elf und von drei Monaten die vorgesehene Mitteilung vorzunehmen, falls eine Sendung der Bestimmungsstelle nicht gestellt worden ist und der Ort der Zuwiderhandlung nicht ermittelt werden kann.

Zum zweiten Teil der ersten Frage

43. Dem vorlegenden Gericht stellt sich die Frage, ob, wenn ein Zollspediteur in seiner Eigenschaft als Hauptverpflichteter für die Folgen eines mit einem Betrug, der ihm nicht zuzurechnen ist, behafteten externen gemeinschaftlichen Versandverfahrens haftbar gemacht wird, dies mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit insofern vereinbar ist, als die Zollschuld, wie im Ausgangsverfahren, das vom Hauptverpflichteten für seine Dienstleistungen erhaltene Entgelt weit übersteigen kann.

44. Die Kommission bezweifelt die Entscheidungserheblichkeit dieser Frage, da die zollrechtlichen Vorschriften keine Beschränkungen der Haftung des Hauptverpflichteten vorsähen. Sie regt an, diese Frage dahin zu verstehen, dass sie auf eine Situation abzielt, in der es unbillig sein könnte, dem Hauptverpflichteten die Haftung für einen Betrug aufzuerlegen, mit dem er nichts zu tun habe und an dessen Begehung Zollbedienstete der Bestimmungsstelle wahrscheinlich beteiligt gewesen seien. Sie schlägt dem Gerichtshof daher vor, die Vorlagefrage inhaltlich zu erweitern und die Kriterien zu berücksichtigen, nach denen Abgaben nach dem in Art. 239 des Zollkodex und den Art. 899 bis 909 der Durchführungsverordnung vorgesehenen Verfahren aus Billigkeitsgründen erlassen werden können. Ihrer Ansicht nach hätten die mit einem „besonderen Fall“ konfrontierten italienischen Behörden gemäß Art. 905 der Durchführungsverordnung die Kommission mit dem Antrag auf Erlass der Abgaben befassen müssen.

45. M & M und die Kommission tragen außerdem vor, die einheitliche Anwendung und Auslegung des Gemeinschaftsrechts verlangten, die Entscheidungen, mit denen es die Zollbehörden ablehnten, einem solchen Antrag stattzugeben, einer effektiven gerichtlichen Kontrolle zu unterziehen, und ersuchen den Gerichtshof insoweit, sich zum Urteil der Corte suprema di cassazione vom 27. September 2002 zu äußern.

46. Nach Ansicht der italienischen Regierung verstößt die Auslösung einer Haftung des Hauptverpflichteten nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Urteile vom 17. Juli 1997, Pascoal & Filhos, C‑97/95, Slg. 1997, I‑4209, und vom 9. März 2006, Beemsterboer Coldstore Services, C‑293/04, Slg. 2006, I‑2263). Es sei nicht Sache des Gerichtshofs, sich zum Urteil der Corte suprema di cassazione vom 27. September 2002 zu äußern, da er nicht mit einer entsprechenden Vorlagefrage befasst worden sei.

47. Nach ständiger Rechtsprechung verlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehört, dass die von einer Gemeinschaftsbestimmung eingesetzten Mittel zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet sind und nicht über das dazu Erforderliche hinausgehen (Urteile vom 14. Dezember 2004, Swedish Match, C‑210/03, Slg. 2004, I‑11893, Randnr. 47, und vom 12. September 2006, Laserdisken, C‑479/04, Slg. 2006, I‑8089, Randnr. 53).

48. Der Hauptverpflichtete als Inhaber des externen gemeinschaftlichen Versandverfahrens ist Schuldner der sich aus der Nichteinhaltung der Bestimmungen dieser Regelung ergebenden Zollschuld. Durch die dem Hauptverpflichteten damit auferlegte Haftung soll gewährleistet werden, dass die Bestimmungen über die Erhebung der Zollschuld im Interesse des Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaft und ihrer Mitgliedstaaten sorgfältig und einheitlich angewandt werden. Dass dem Hauptverpflichteten die Zahlung der Zollschuld unabhängig davon auferlegt wird, wie hoch diese Schuld im Verhältnis zu den Einnahmen ist, die er erzielt, wenn er, wie im Ausgangsverfahren, als Zollspediteur tätig wird, verstößt nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

49. Auch der Umstand, dass der Hauptverpflichtete gutgläubig ist und die Zuwiderhandlung gegen die Regelung des externen gemeinschaftlichen Versandverfahrens auf einen Betrug zurückgeht, mit dem er nichts zu tun hat, ist nicht geeignet, einen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu begründen. Andernfalls wäre für den Hauptverpflichteten der Anreiz nicht mehr so stark, sich des ordnungsgemäßen Ablaufs der Versandverfahren zu vergewissern (vgl. entsprechend Urteil Pascoal & Filhos, Randnrn. 51 bis 55).

50. Es ist jedoch daran zu erinnern, dass der Hauptverpflichtete nach Art. 239 des Zollkodex, der eine allgemeine Billigkeitsklausel darstellt, den Erlass der Abgaben beantragen kann, wenn sich das Entstehen der Zollschuld aus Umständen ergibt, die nicht auf betrügerische Absicht oder offensichtliche Fahrlässigkeit des Hauptverpflichteten zurückzuführen sind. Zu diesem Zweck schaffen die Art. 899 bis 905 der Durchführungsverordnung ein Verfahren der administrativen Zusammenarbeit zwischen den Zollbehörden und der Kommission.

51. Daher ist auf den zweiten Teil der ersten Frage zu antworten, dass der Umstand, dass ein Zollspediteur als Hauptverpflichteter für die Zollschuld haftbar gemacht wird, nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt.

Kosten

52. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Tenor

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

1. Bei der Prüfung der Zuständigkeit des Mitgliedstaats, der die Zölle erhoben hat, ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu bestimmen, ob zu dem Zeitpunkt, zu dem festgestellt wurde, dass die Sendung der Bestimmungsstelle nicht gestellt worden ist, der Ort der Zuwiderhandlung ermittelt werden konnte. Ist dies der Fall, kann nach Art. 203 Abs. 1 und Art. 215 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften der Mitgliedstaat als für die Erhebung der Zollschuld zuständig bestimmt werden, in dessen Gebiet die erste Zuwiderhandlung begangen wurde, die sich als Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung qualifizieren lässt. Konnte der Ort der Zuwiderhandlung hingegen nicht ermittelt werden, ist nach den Art. 378 und 379 der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission vom 2. Juli 1993 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung Nr. 2913/92 für die Erhebung der Zollschuld der Mitgliedstaat zuständig, zu dem die Abgangsstelle gehört.

2. Ist eine Sendung der Bestimmungsstelle nicht gestellt worden und kann der Ort der Zuwiderhandlung nicht ermittelt werden, ist es allein Sache der Abgangsstelle, unter Beachtung der in Art. 379 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 2454/93 genannten Fristen von elf und von drei Monaten die vorgesehene Mitteilung vorzunehmen.

3. Der Umstand, dass ein Zollspediteur als Hauptverpflichteter für die Zollschuld haftbar gemacht wird, verstößt nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

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