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Document 62008CJ0578

Urteil des Gerichtshofes (Zweite Kammer) vom 4. März 2010.
Rhimou Chakroun gegen Minister van Buitenlandse Zaken.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Raad van State - Niederlande.
Recht auf Familienzusammenführung - Richtlinie 2003/86/EG - Begriff ‚Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen‘ - Begriff ‚Familienzusammenführung‘ - Familiengründung.
Rechtssache C-578/08.

European Court Reports 2010 I-01839

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2010:117

Rechtssache C-578/08

Rhimou Chakroun

gegen

Minister van Buitenlandse Zaken

(Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State)

„Recht auf Familienzusammenführung – Richtlinie 2003/86/EG – Begriff ‚Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen‘ – Begriff ‚Familienzusammenführung‘ – Familiengründung“

Leitsätze des Urteils

1.        Visa, Asyl, Einwanderung – Einwanderungspolitik – Recht auf Familienzusammenführung – Richtlinie 2003/86

(Richtlinie 2003/86 des Rates, Art. 7 Abs. 1 Buchst. c)

2.        Visa, Asyl, Einwanderung – Einwanderungspolitik – Recht auf Familienzusammenführung – Richtlinie 2003/86

(Richtlinie 2003/86 des Rates, Art. 2 Buchst. d und Art. 7 Abs. 1 Buchst. c)

1.        Die Wendung „Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen“ in Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung ist dahin auszulegen, dass sie einem Mitgliedstaat nicht erlaubt, eine Regelung für die Familienzusammenführung zu treffen, die dazu führt, dass die Familienzusammenführung einem Zusammenführenden nicht gestattet wird, der nachgewiesen hat, dass er über ausreichende feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, um die allgemein notwendigen Kosten des Lebensunterhalts für sich und seine Familienangehörigen zu bestreiten, jedoch wegen der Höhe seiner Einkünfte eine besondere Sozialhilfe zur Bestreitung besonderer, individuell bestimmter notwendiger Kosten des Lebensunterhalts, einkommensabhängige Befreiungen von Abgaben nachgeordneter Gebietskörperschaften oder einkommensunterstützende Maßnahmen im Rahmen der gemeindlichen Politik für Einkommensschwache in Anspruch nehmen kann.

Da nämlich nach der Richtlinie die Genehmigung der Familienzusammenführung die Grundregel darstellt, ist die durch Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie verliehene Befugnis eng auszulegen. Ferner darf der den Mitgliedstaaten eröffnete Handlungsspielraum von ihnen nicht in einer Weise genutzt werden, die das Richtlinienziel – die Begünstigung der Familienzusammenführung – und die praktische Wirksamkeit der Richtlinie beeinträchtigen würde.

(vgl. Randnrn. 43, 52, Tenor 1)

2.        Die Richtlinie 2003/86 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung, insbesondere Art. 2 Buchst. d, ist dahin auszulegen, dass diese Bestimmung einer nationalen Regelung entgegensteht, in der bei der Anwendung des Einkommenserfordernisses des Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie danach unterschieden wird, ob die familiären Bindungen vor oder nach der Einreise des Zusammenführenden in den Aufnahmemitgliedstaat entstanden sind.

Denn in Anbetracht des vom Unionsgesetzgeber gewollten Fehlens einer Unterscheidung nach dem Zeitpunkt der Entstehung der Familie und unter Berücksichtigung der Notwendigkeit, die Bestimmungen der Richtlinie 2003/86 nicht eng auszulegen und nicht ihrer praktischen Wirksamkeit zu berauben, verfügen die Mitgliedstaaten nicht über einen Wertungsspielraum, der es ihnen erlauben würde, diese Unterscheidung in ihre nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie einzuführen. Im Übrigen kann die Fähigkeit eines Zusammenführenden, für feste und regelmäßige Einkünfte zur Bestreitung seines Lebensunterhalts und desjenigen seiner Familie im Sinne des Art. 7 Abs. 1 Buchst. c zu sorgen, in keiner Weise von dem Zeitpunkt abhängen, zu dem er seine Familie gegründet hat.

(vgl. Randnrn. 64, 66, Tenor 2)







URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

4. März 2010(*)

„Recht auf Familienzusammenführung – Richtlinie 2003/86/EG – Begriff ‚Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen‘ – Begriff ‚Familienzusammenführung‘ – Familiengründung“

In der Rechtssache C‑578/08

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach den Art. 68 EG und 234 EG, eingereicht vom Raad van State (Niederlande) mit Entscheidung vom 23. Dezember 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Dezember 2008, in dem Verfahren

Rhimou Chakroun

gegen

Minister van Buitenlandse Zaken

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues sowie der Richter A. Rosas (Berichterstatter), U. Lõhmus, A. Ó Caoimh und A. Arabadjiev,

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 21. Oktober 2009,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Frau Chakroun, vertreten durch R. Veerkamp, advocaat,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch C. M. Wissels und Y. de Vries als Bevollmächtigte,

–        der griechischen Regierung, vertreten durch T. Papadopoulou, G. Kanellopoulos und Z. Chatzipavlou als Bevollmächtigte,

–        der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch M. Condou‑Durande und R. Troosters als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 10. Dezember 2009

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. d und Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251, S. 12, im Folgenden: Richtlinie).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Chakroun und dem Minister van Buitenlandse Zaken (Minister für auswärtige Angelegenheiten, im Folgenden: Minister) wegen der Ablehnung des Antrags der Klägerin des Ausgangsverfahrens auf Erteilung einer vorläufigen Aufenthaltserlaubnis.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Die Richtlinie legt die Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige fest, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten.

4        Der zweite, der vierte und der sechste Erwägungsgrund der Richtlinie lauten:

„(2)      Maßnahmen zur Familienzusammenführung sollten in Übereinstimmung mit der Verpflichtung zum Schutz der Familie und zur Achtung des Familienlebens getroffen werden, die in zahlreichen Instrumenten des Völkerrechts verankert ist. Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und berücksichtigt die Grundsätze, die insbesondere in Artikel 8 der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK)] und der [am 7. Dezember 2000 in Nizza verkündeten] Charta der Grundrechte der Europäischen Union [ABl. C 364, S. 1] anerkannt wurden.

(4)      Die Familienzusammenführung ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Familienleben möglich ist. Sie trägt zur Schaffung soziokultureller Stabilität bei, die die Integration Drittstaatsangehöriger in dem Mitgliedstaat erleichtert; dadurch wird auch der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt gefördert, der als grundlegendes Ziel der Gemeinschaft im Vertrag aufgeführt wird.

(6)      Zum Schutz der Familie und zur Wahrung oder Herstellung des Familienlebens sollten die materiellen Voraussetzungen für die Wahrnehmung des Rechts auf Familienzusammenführung nach gemeinsamen Kriterien bestimmt werden.“

5        Art. 2 Buchst. a bis d der Richtlinie stellt folgende Definitionen auf:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

a)      ‚Drittstaatsangehöriger‘ jede Person, die nicht Unionsbürger im Sinne von Artikel 17 Absatz 1 des Vertrags ist;

b)      ‚Flüchtling‘ jeden Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, dem die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des Genfer Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 in der durch das New Yorker Protokoll vom 31. Januar 1967 geänderten Fassung zuerkannt wurde;

c)      ‚Zusammenführender‘ den sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhaltenden Drittstaatsangehörigen, der oder dessen Familienangehörige einen Antrag auf Familienzusammenführung mit ihm stellt bzw. stellen;

d)      ‚Familienzusammenführung‘ die Einreise und den Aufenthalt von Familienangehörigen eines sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhaltenden Drittstaatsangehörigen in diesem Mitgliedstaat, mit dem Ziel, die Familiengemeinschaft aufrechtzuerhalten, unabhängig davon, ob die familiären Bindungen vor oder nach der Einreise des Zusammenführenden entstanden sind.“

6        Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie sieht vor:

„Vorbehaltlich der in Kapitel IV sowie in Artikel 16 genannten Bedingungen gestatten die Mitgliedstaaten gemäß dieser Richtlinie folgenden Familienangehörigen die Einreise und den Aufenthalt:

a)      dem Ehegatten des Zusammenführenden“.

7        Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie lautet:

„Bei Einreichung des Antrags auf Familienzusammenführung kann der betreffende Mitgliedstaat vom Antragsteller den Nachweis verlangen, dass der Zusammenführende über Folgendes verfügt:

a)      Wohnraum, der für eine vergleichbar große Familie in derselben Region als üblich angesehen wird und der die in dem betreffenden Mitgliedstaat geltenden allgemeinen Sicherheits- und Gesundheitsnormen erfüllt;

b)      eine Krankenversicherung für ihn selbst und seine Familienangehörigen, die im betreffenden Mitgliedstaat sämtliche Risiken abdeckt, die in der Regel auch für die eigenen Staatsangehörigen abgedeckt sind;

c)      feste und regelmäßige Einkünfte, die ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des betreffenden Mitgliedstaats für seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen ausreich[en]. Die Mitgliedstaaten beurteilen diese Einkünfte anhand ihrer Art und Regelmäßigkeit und können die Höhe der Mindestlöhne und -renten sowie die Anzahl der Familienangehörigen berücksichtigen.“

8        Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie sieht vor:

„(1)      Dieses Kapitel findet auf die Familienzusammenführung von Flüchtlingen Anwendung, die von den Mitgliedstaaten anerkannt worden sind.

(2)      Die Mitgliedstaaten können die Anwendung dieses Kapitels auf Flüchtlinge beschränken, deren familiäre Bindungen bereits vor ihrer Einreise bestanden haben.“

9        Art. 17 der Richtlinie lautet:

„Im Fall der Ablehnung eines Antrags, dem Entzug oder der Nichtverlängerung des Aufenthaltstitels sowie der Rückführung des Zusammenführenden oder seiner Familienangehörigen berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise die Art und die Stärke der familiären Bindungen der betreffenden Person und die Dauer ihres Aufenthalts in dem Mitgliedstaat sowie das Vorliegen familiärer, kultureller oder sozialer Bindungen zu ihrem Herkunftsland.“

10      Nach Art. 20 der Richtlinie war diese von den Mitgliedstaaten bis spätestens zum 3. Oktober 2005 in ihr innerstaatliches Recht umzusetzen.

 Nationales Recht

11      Art. 16 Abs. 1 Buchst. c des Ausländergesetzes von 2000 (Vreemdelingenwet 2000) bestimmt:

„Ein Antrag auf befristete Aufenthaltserlaubnis … kann abgelehnt werden, wenn

c)      der Ausländer nicht selbst und dauerhaft über ausreichende Existenzmittel verfügt oder wenn die Person, bei der sich der Ausländer aufhalten möchte, nicht selbst und dauerhaft über ausreichende Existenzmittel verfügt.“

12      Der Großteil der für das Ausgangsverfahren einschlägigen Bestimmungen findet sich in der Ausländerverordnung von 2000 (Vreemdelingenbesluit 2000, im Folgenden: Vb 2000). Sie wurde mit Königlicher Verordnung vom 29. September 2004 (Staatsblad 2004, Nr. 496) geändert, um die Richtlinie umzusetzen.

13      Art. 1.1 Buchst. r Vb 2000 definiert den Begriff der Familiengründung als Zusammenführung u. a. von Ehepartnern, wenn die Ehe zu einem Zeitpunkt geschlossen wurde, zu dem die Hauptperson ihren Hauptaufenthalt in den Niederlanden hatte.

14      Art. 3.13 Abs. 1 Vb 2000 sieht, soweit für das Ausgangsverfahren relevant, vor:

„Die befristete Arbeitserlaubnis … wird unter den Bedingungen der Familienzusammenführung und Familiengründung dem … Familienangehörigen der … Hauptperson erteilt, wenn alle in den Art. 3.16 bis 3.22 aufgeführten Voraussetzungen erfüllt sind.“

15      In Art. 3.22 Vb 2000 heißt es:

„(1)      Die Aufenthaltserlaubnis wird gemäß Art. 3.13 Abs. 1 erteilt, wenn die Hauptperson

a)      dauerhaft und selbst über ein Nettoeinkommen im Sinne von Art. 3.74 Buchst. a verfügt …

(2)       Im Fall der Familiengründung wird die Aufenthaltserlaubnis abweichend von Abs. 1 erteilt, wenn die Hauptperson dauerhaft und selbst über ein Nettoeinkommen verfügt, das mindestens 120 % des Mindestlohns nach Art. 8 Abs. 1 Buchst. a und Art. 14 des Gesetzes über den Mindestlohn und das Mindesturlaubsgeld [Wet minimumloon en minimumvakantiebijslag] einschließlich des Urlaubsgelds nach Art. 15 dieses Gesetzes beträgt.“

16      Art. 3.74 Buchst. a und d Vb 2000 bestimmt:

„Die Existenzmittel sind … ausreichend,

a)      wenn das Nettoeinkommen den Regelsätzen des Art. 21 des Gesetzes über Arbeit und Sozialhilfe [Wet werk en bijstand, im Folgenden: Wwb] für die jeweils in Betracht kommende Kategorie Alleinstehender, alleinstehender Elternteil oder Ehepaar und Familie – einschließlich des Urlaubsgelds – entspricht …

d)      bei der Familiengründung: wenn das Nettoeinkommen 120 % des Mindestlohns im Sinne von Art. 8 Abs. 1 Buchst. a und Art. 14 des Gesetzes über den Mindestlohn und das Mindesturlaubsgeld einschließlich des Urlaubsgelds nach Art. 15 dieses Gesetzes entspricht“.

17      Aus den vom vorlegenden Gericht zur Verfügung gestellten Unterlagen ergibt sich, dass der nach Art. 21 Buchst. c Wwb festgelegte Regelsatz zum für das Ausgangsverfahren relevanten Zeitpunkt für Betroffene im Alter von 21 bis 65 Jahren, wenn beide Ehepartner jünger als 65 Jahre waren, 1 207,91 Euro monatlich betrug, während im Fall der Familiengründung Existenzmittel als ausreichend angesehen wurden, wenn das Nettoeinkommen 1 441,44 Euro monatlich einschließlich des Urlaubsgelds betrug.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

18      Herr Chakroun wurde am 1. Juli 1944 geboren und ist marokkanischer Staatsangehöriger. Er hält sich seit dem 21. Dezember 1970 in den Niederlanden auf und ist im Besitz einer herkömmlichen unbefristeten Aufenthaltserlaubnis. Seit dem 12. Juli 2005 erhält er eine Leistung nach dem Gesetz vom 6. November 1986 über die Versicherung der Arbeitnehmer gegen die finanziellen Folgen der Arbeitslosigkeit (Wet tot verzekering van werknemers tegen geldelijke gevolgen van werkloosheid), die bis 12. Juli 2010 gewährt wird, sofern sich die Umstände nicht ändern.

19      Frau Chakroun, geboren am 18. Juli 1948, ist ebenfalls marokkanische Staatsangehörige und mit Herrn Chakroun seit dem 31. Juli 1972 verheiratet.

20      Am 10. März 2006 beantragte Frau Chakroun bei der niederländischen Botschaft in Rabat (Marokko) eine vorläufige Aufenthaltserlaubnis, um bei ihrem Mann leben zu können.

21      Mit Bescheid vom 17. Juli 2006 lehnte der Minister den Antrag mit der Begründung ab, dass Herr Chakroun nicht über ausreichende Einkünfte im Sinne des Vb 2000 verfüge. Die Arbeitslosenunterstützung, die Herr Chakroun erhalte, betrage einschließlich Urlaubsgeld 1 322,73 Euro netto pro Monat, also weniger als das anwendbare Regeleinkommen bei Familiengründungen, das bei 1 441,44 Euro liege.

22      Mit Bescheid vom 21. Februar 2007 erklärte der Minister den Widerspruch von Frau Chakroun gegen den Bescheid vom 17. Juli 2006 für unbegründet.

23      Mit Urteil vom 15. Oktober 2007 erklärte die Rechtbank ’s-Gravenhage die Klage von Frau Chakroun gegen diesen Bescheid vom 21. Februar 2007 für unbegründet. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens legte daraufhin ein Rechtsmittel gegen dieses Urteil beim Raad van State ein.

24      Vor diesem Gericht wirft Frau Chakroun als Erstes die Frage auf, ob Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie durch Art. 3.74 Buchst. d und Art. 3.22 Abs. 2 Vb 2000 ordnungsgemäß umgesetzt worden sei, denn darin würden vom Zusammenführenden im Fall der Familiengründung Einkünfte verlangt, die 120 % des Mindestlohns entsprächen.

25      Das vorlegende Gericht führt aus, der Mindestlohn sei ein wesentlicher Bezugspunkt in der Wwb, und sein Ziel sei es, jedem in den Niederlanden wohnhaften niederländischen Staatsbürger und jedem diesem gleichgestellten und in den Niederlanden wohnhaften Ausländer, der sich in der Lage befinde oder in die Lage zu geraten drohe, dass er nicht über die Mittel verfüge, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, ein Existenzminimum zu gewährleisten (Art. 11 Wwb). Die Anwendung dieses Gesetzes fällt in die Zuständigkeit der Gemeinden.

26      Die Wwb sieht zwei Arten von Sozialhilfe vor. Es gibt zum einen die allgemeine Sozialhilfe, worunter die Hilfe zur Bestreitung der allgemein notwendigen Kosten des Lebensunterhalts verstanden wird (Art. 5 Buchst. b Wwb). Zum anderen sieht das Gesetz eine besondere Sozialhilfe vor, die den Betroffenen gewährt wird, soweit sie nicht über die Mittel verfügen, um die sich aus außergewöhnlichen Umständen ergebenden notwendigen Kosten des Lebensunterhalts zu bestreiten, und nach Ansicht des Gemeindekollegiums diese Kosten nicht anderweitig bestritten werden können (Art. 35 Abs. 1 Wwb).

27      Als Bezugspunkt für die Ermittlung des Bedarfs und des Betrags, auf den eine Person im Rahmen der allgemeinen Sozialhilfe Anspruch hat, wird in der Wwb der Mindestlohn für eine Person von 23 Jahren herangezogen. Wie die niederländische Regierung in ihren Erklärungen ausführt, ist der Betrag von 120 % des Mindestlohns der Betrag, ab dem ein Gebietsansässiger keine allgemeine oder besondere Sozialhilfe mehr erhalten kann.

28      Der Raad van State sieht sich vor die Frage gestellt, ob die Mitgliedstaaten bei der Beurteilung im Rahmen von Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie soziale Leistungen in Form der besonderen Sozialhilfe pauschal oder nicht pauschal berücksichtigen können oder müssen. Über die besondere Sozialhilfe wird nach Prüfung der Situation des Antragstellers vom Gemeindekollegium entschieden, und sie kann verschiedene Formen annehmen, z. B. kann es sich auch um eine Steuerermäßigung handeln.

29      Als Zweites wendet sich Frau Chakroun gegen die Unterscheidung, die in den niederländischen Rechtsvorschriften zwischen der Familienzusammenführung und der Familiengründung danach getroffen werde, ob die familiären Bindungen vor oder nach der Einreise des Zusammenführenden in die Niederlande entstanden seien, obwohl sich eine solche Unterscheidung nicht aus Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie ergebe. Wäre nämlich der im Ausgangsverfahren fragliche Antrag als ein Antrag auf Familienzusammenführung im Sinne der niederländischen Rechtsvorschriften angesehen worden, wäre gemäß Art. 3.74 Buchst. a Vb 2000 der Sozialhilferichtsatz nach Art. 21 Buchst. c Wwb herangezogen worden, so dass die Einkünfte von Herrn Chakroun höher als gefordert gewesen wären.

30      Der Raad van State hat Zweifel, ob die Mitgliedstaaten eine solche Unterscheidung zwischen Familiengründung und Familienzusammenführung treffen dürfen, führt aber aus, dass nicht ausgeschlossen sei, dass die Richtlinie Rechtsvorschriften nicht entgegenstehe, in denen danach unterschieden werde, ob die familiären Bindungen vor oder nach der Einreise des Zusammenführenden in den Aufnahmemitgliedstaat entstanden seien. Diese Unterscheidung sei in Art. 9 der Richtlinie, der auf Flüchtlinge Anwendung finde, und in Art. 16 Abs. 1 und 5 der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44) vorgesehen.

31      Unter diesen Umständen hat der Raad van State das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Bedeutet die Wendung „Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen“ in Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie, dass diese Bestimmung einem Mitgliedstaat erlaubt, eine Regelung für die Familienzusammenführung zu treffen, die dazu führt, dass die Familienzusammenführung einem Zusammenführenden nicht gestattet wird, der nachgewiesen hat, dass er über ausreichende feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, um die allgemein notwendigen Kosten des Lebensunterhalts zu bestreiten, jedoch wegen der Höhe seiner Einkünfte die besondere Sozialhilfe zur Bestreitung besonderer, individuell bestimmter notwendiger Kosten des Lebensunterhalts, einkommensabhängige Befreiungen von Abgaben nachgeordneter Gebietskörperschaften oder einkommensunterstützende Maßnahmen im Rahmen der gemeindlichen Politik für Einkommensschwache („minimabeleid“) in Anspruch nehmen kann?

2.      Ist die Richtlinie, insbesondere Art. 2 Buchst. d, dahin auszulegen, dass diese Bestimmung einer nationalen Regelung entgegensteht, in der bei der Anwendung des Einkommenserfordernisses des Art. 7 Abs. 1 Buchst. c danach unterschieden wird, ob die familiären Bindungen vor oder nach der Einreise desjenigen, der sich in dem Mitgliedstaat aufhält, entstanden sind?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

32      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Wendung „Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen“ in Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie dahin auszulegen ist, dass sie einem Mitgliedstaat erlaubt, eine Regelung für die Familienzusammenführung zu treffen, die dazu führt, dass die Familienzusammenführung einem Zusammenführenden nicht gestattet wird, der nachgewiesen hat, dass er über ausreichende feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, um die allgemein notwendigen Kosten des Lebensunterhalts für sich und seine Familienangehörigen zu bestreiten, jedoch wegen der Höhe seiner Einkünfte die besondere Sozialhilfe zur Bestreitung besonderer, individuell bestimmter notwendiger Kosten des Lebensunterhalts, einkommensabhängige Befreiungen von Abgaben nachgeordneter Gebietskörperschaften oder einkommensunterstützende Maßnahmen im Rahmen der gemeindlichen Politik für Einkommensschwache („minimabeleid“) in Anspruch nehmen kann.

 Erklärungen der Verfahrensbeteiligten

33      Die Klägerin des Ausgangsverfahrens trägt vor, dass mit dem System der „Sozialhilfeleistungen des betreffenden Mitgliedstaates“ in Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie nur eine Regelung auf nationaler Ebene gemeint sein könne, während einige vom Raad van State genannte Regelungen auf kommunaler Ebene erlassen worden seien. Der Verweis in Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie auf die Höhe der nationalen Mindestlöhne und -renten sei zudem so zu verstehen, dass diese Höhe eine Höchstgrenze darstelle.

34      Die Klägerin des Ausgangsverfahrens macht wie auch die Kommission der Europäischen Gemeinschaften geltend, dass der den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie belassene Wertungsspielraum nicht die Ziele und die praktische Wirksamkeit der Richtlinie beeinträchtigen dürfe. Sie führt u. a. aus, dass der Regelsatz von 120 % des Mindestlohns, so wie er festgelegt sei, zur Folge habe, dass junge Antragsteller das Kriterium der Existenzmittel auf der Grundlage einer Vollzeitbeschäftigung praktisch niemals erfüllen könnten. Das Gesetz ziehe nämlich als Bezugspunkt den Mindestlohn einer Person im Alter von 23 Jahren heran. Der Mindestlohn einer Person unter 23 Jahren betrage aber nur einen Bruchteil des Mindestlohns eines 23-Jährigen, also z. B. 72 % für einen 21-Jährigen, so dass ein 21-Jähriger 160 % des für seine Altersklasse geltenden Mindestlohns verdienen müsse, um das Kriterium zu erfüllen.

35      In der mündlichen Verhandlung hat Frau Chakroun einen Bericht des Wetenschappelijk Onderzoek- en Documentatiecentrum (Wissenschaftlichen Forschungs- und Dokumentationszentrums) des niederländischen Justizministeriums angeführt, in dem der Einfluss der Erhöhung des Einkommens, das für eine Familienzusammenführung gefordert werde, auf die Migration ausländischer Ehepartner in die Niederlande untersucht werde. Die in diesem Bericht beschriebenen negativen Aspekte zeigten, dass die niederländische Regelung dem Ziel der Richtlinie zuwiderlaufe.

36      Die Kommission vertritt die Auffassung, dass nach der Richtlinie wesentlich sei, ob der Betroffene selbst über ausreichende Mittel zur Befriedigung seiner Grundbedürfnisse verfüge, ohne Sozialhilfeleistungen in Anspruch zu nehmen. Das von der Richtlinie vorgesehene System dürfe nicht dahin verstanden werden, dass es dem Mitgliedstaat gestatte, alle sozialen Vergünstigungen zusammenzurechnen, auf die Betroffene eventuell Anspruch hätten, um daraus die geforderte Einkommensgrenze abzuleiten.

37      Wie in Nr. 4.3.3 ihres Berichts an das Europäische Parlament und an den Rat vom 8. Oktober 2008 über die Anwendung der Richtlinie 2003/86 (KOM[2008] 610) ausgeführt, sei der Betrag, den die niederländischen Behörden bei der Prüfung forderten, ob ausreichende Einkünfte vorhanden seien, der höchste aller Mitgliedstaaten der Gemeinschaft. Hätten die familiären Bindungen zwischen den Eheleuten Chakroun im Ausgangsverfahren schon vor der Einreise von Herrn Chakroun in das Gebiet der Gemeinschaft bestanden, wäre das Einkommen, das für die Prüfung, ob ausreichende Einkünfte vorhanden seien, herangezogen worden sei, niedriger gewesen als im Ausgangsverfahren unter Anwendung von Art. 3.74 Buchst. d Vb 2000. Es könne deshalb angenommen werden, dass der Betrag, der nach der nationalen Regelung gefordert werde, wenn die familiären Bindungen schon vor der Einreise des Zusammenführenden in das Gebiet der Gemeinschaft bestünden, dem Betrag entspreche, der für gewöhnlich ausreiche, um die grundlegendsten Bedürfnisse innerhalb der niederländischen Gesellschaft zu befriedigen.

38      Schließlich sind sowohl Frau Chakroun als auch die Kommission der Auffassung, dass die niederländischen Behörden im Ausgangsverfahren die lange Dauer des Aufenthalts und der Ehe hätten berücksichtigen müssen und dass durch die Nichtberücksichtigung gegen das in Art. 17 der Richtlinie aufgestellte Erfordernis der individualisierten Antragsprüfung verstoßen worden sei.

39      Die niederländische Regierung erläutert, dass das auf 120 % des gesetzlichen Mindestlohns festgesetzte ausreichende Einkommensniveau der Einkommenshöhe entspreche, die von den niederländischen Gemeinden im Allgemeinen als eines der Kriterien für die Bestimmung der potenziellen Begünstigten einer allgemeinen oder besonderen Sozialhilfemaßnahme herangezogen werde. Einige Gemeinden entschieden sich jedoch für eine andere Einkommenshöhe, nämlich zwischen 110 % und 130 % des gesetzlichen Mindestlohns. Da die Sozialhilfe bedarfsabhängig gewährt werde, sei es erst im Nachhinein möglich, Statistiken über die durchschnittliche Einkommensobergrenze für die Gewährung von Sozialhilfe aufzustellen.

40      Daher sei das auf 120 % des gesetzlichen Mindestlohns festgesetzte Einkommensniveau mit Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie vereinbar, da es sich um das Einkommensniveau handele, ab dem es grundsätzlich nicht mehr möglich sei, eine allgemeine oder besondere Sozialhilfemaßnahme in Anspruch zu nehmen. Die Höhe des Mindestlohns in den Niederlanden erlaube nämlich nur die Erfüllung der Grundbedürfnisse und könne sich als unzureichend für individuelle Sonderausgaben erweisen. Dies rechtfertige das Abstellen auf ein Einkommensniveau von 120 % des gesetzlichen Mindestlohns.

 Antwort des Gerichtshofs

41      Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie gibt den Mitgliedstaaten präzise positive Verpflichtungen auf, denen klar definierte subjektive Rechte entsprechen, da er den Mitgliedstaaten in den in der Richtlinie festgelegten Fällen vorschreibt, den Nachzug bestimmter Mitglieder der Familie des Zusammenführenden zu genehmigen, ohne dass sie dabei von ihrem Wertungsspielraum Gebrauch machen könnten (Urteil vom 27. Juni 2006, Parlament/Rat, C‑540/03, Slg. 2006, I‑5769, Randnr. 60).

42      Diese Bestimmung steht jedoch unter dem Vorbehalt der Einhaltung der u. a. in Kapitel IV der Richtlinie genannten Bedingungen. Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie ist Teil dieser Bedingungen und gestattet den Mitgliedstaaten, den Nachweis zu verlangen, dass der Zusammenführende über feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, die ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des betreffenden Mitgliedstaats für seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen ausreichen. Darin heißt es weiter, dass die Mitgliedstaaten diese Einkünfte anhand ihrer Art und Regelmäßigkeit beurteilen und die Höhe der Mindestlöhne und -renten sowie die Anzahl der Familienangehörigen berücksichtigen können.

43      Da die Genehmigung der Familienzusammenführung die Grundregel darstellt, ist die durch Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie verliehene Befugnis eng auszulegen. Ferner darf der den Mitgliedstaaten eröffnete Handlungsspielraum von ihnen nicht in einer Weise genutzt werden, die das Richtlinienziel – die Begünstigung der Familienzusammenführung – und die praktische Wirksamkeit der Richtlinie beeinträchtigen würde.

44      In dieser Hinsicht ergibt sich aus dem zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie, dass Maßnahmen zur Familienzusammenführung in Übereinstimmung mit der Verpflichtung zum Schutz der Familie und zur Achtung des Familienlebens getroffen werden sollten, die in zahlreichen Instrumenten des Völkerrechts verankert ist. Die Richtlinie steht nämlich im Einklang mit den Grundrechten und berücksichtigt die Grundsätze, die insbesondere in Art. 8 EMRK und der Charta anerkannt wurden. Daher sind die Bestimmungen der Richtlinie, u. a. Art. 7 Abs. 1 Buchst. c, im Licht der Grundrechte und insbesondere des Rechts auf Achtung des Familienlebens auszulegen, das sowohl in der EMRK als auch in der Charta verankert ist. Hinzu kommt, dass die Europäische Union nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 EUV die Rechte, Freiheiten und Grundsätze anerkennt, die in der Charta in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepassten Fassung (ABl. C 303, S. 1) niedergelegt sind; die Charta und die Verträge sind rechtlich gleichrangig.

45      Wie die Klägerin des Ausgangsverfahrens in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, ist der Begriff „Sozialhilfeleistungen des … Mitgliedstaats“ ein autonomer Begriff des Unionsrechts, der nicht anhand von Begriffen des nationalen Rechts ausgelegt werden kann. In Anbetracht insbesondere der Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bei der Handhabung der Sozialhilfe ist dieser Begriff dahin zu verstehen, dass damit eine Sozialhilfe gemeint ist, die von öffentlichen Behörden auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene gewährt wird.

46      Art. 7 Abs. 1 Buchst. c Satz 1 der Richtlinie stellt dem Begriff „feste und regelmäßige Einkünfte, die … für seinen Lebensunterhalt … ausreichen“ den Begriff „Sozialhilfe“ gegenüber. Diese Gegenüberstellung zeigt, dass mit dem Begriff „Sozialhilfe“ in der Richtlinie eine Hilfe gemeint ist, die von den öffentlichen Behörden auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene gewährt wird und die ein Einzelner, in diesem Fall der Zusammenführende, in Anspruch nimmt, wenn er nicht über feste und regelmäßige Einkünfte zur Bestreitung seines Lebensunterhalts und desjenigen seiner Familie verfügt und deshalb Gefahr läuft, während seines Aufenthalts die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen zu müssen (vgl. entsprechend Urteil vom 11. Dezember 2007, Eind, C‑291/05, Slg. 2007, I‑10719, Randnr. 29).

47      Art. 7 Abs. 1 Buchst. c Satz 2 der Richtlinie gestattet den Mitgliedstaaten, bei der Beurteilung der Einkünfte des Zusammenführenden die Höhe der nationalen Mindestlöhne und -renten zu berücksichtigen. Wie in Randnr. 43 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ist diese Befugnis auszuüben, ohne dass das Richtlinienziel – die Begünstigung der Familienzusammenführung – und die praktische Wirksamkeit der Richtlinie beeinträchtigt werden.

48      Da der Umfang der Bedürfnisse sehr individuell sein kann, ist diese Befugnis ferner dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten einen bestimmten Betrag als Richtbetrag angeben können, jedoch ist sie nicht dahin zu verstehen, dass die Mitgliedstaaten ein Mindesteinkommen vorgeben könnten, unterhalb dessen jede Familienzusammenführung abgelehnt würde, und dies ohne eine konkrete Prüfung der Situation des einzelnen Antragstellers. Diese Auslegung wird durch Art. 17 der Richtlinie gestützt, der eine individualisierte Prüfung der Anträge auf Zusammenführung verlangt.

49      Als Richtbetrag ein Einkommensniveau von 120 % des Mindestlohns eines Arbeitnehmers im Alter von 23 Jahren – ein Betrag, oberhalb dessen jeder Rückgriff auf eine besondere Hilfe grundsätzlich ausgeschlossen ist – heranzuziehen, scheint dem Ziel, festzustellen, ob ein Einzelner über regelmäßige Einkünfte zur Bestreitung seines Lebensunterhalts verfügt, nicht zu entsprechen. Der Begriff „Sozialhilfe“ in Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie ist nämlich dahin auszulegen, dass er sich auf eine Hilfe bezieht, die einen Mangel an ausreichenden festen und regelmäßigen Einkünften ausgleicht, nicht aber eine Hilfe, die es erlauben würde, außergewöhnliche oder unvorhergesehene Bedürfnisse zu befriedigen.

50      Zudem ist der Wert von 120 %, auf den abgestellt wird, um den vom Vb 2000 vorgeschriebenen Betrag festzusetzen, nur ein Durchschnittswert, der sich ergibt, wenn die Statistiken über die von den niederländischen Gemeinden gewährte besondere Sozialhilfe anhand der von den Gemeinden herangezogenen Einkommenskriterien aufgestellt werden. Wie in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, legen einige Gemeinden einen geringeren Betrag als 120 % des Mindestlohns als Richtbetrag zugrunde, was der These widerspricht, ein Einkommen in Höhe von 120 % des Mindestlohns sei unabdingbar.

51      Schließlich ist es nicht Sache des Gerichtshofs, zu beurteilen, ob das vom niederländischen Gesetz vorgesehene Mindesteinkommen ausreicht, um den niederländischen Arbeitnehmern zu ermöglichen, ihre gewöhnlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Wie die Kommission zu Recht geltend gemacht hat, genügt jedoch die Feststellung, dass, hätten die familiären Bindungen zwischen den Eheleuten Chakroun im Ausgangsverfahren schon vor der Einreise von Herrn Chakroun in das Gebiet der Gemeinschaft bestanden, der Einkommensbetrag, der bei der Prüfung des Antrags von Frau Chakroun herangezogen worden wäre, der Mindestlohn gewesen wäre und nicht 120 % von diesem. Daraus ist der Schluss zu ziehen, dass der Mindestlohn von den niederländischen Behörden selbst als ausreichende Einkünfte im Sinne des Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie angesehen wird.

52      Nach dem Vorstehenden ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass die Wendung „Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen“ in Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie dahin auszulegen ist, dass sie einem Mitgliedstaat nicht erlaubt, eine Regelung für die Familienzusammenführung zu treffen, die dazu führt, dass die Familienzusammenführung einem Zusammenführenden nicht gestattet wird, der nachgewiesen hat, dass er über ausreichende feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, um die allgemein notwendigen Kosten des Lebensunterhalts für sich und seine Familienangehörigen zu bestreiten, jedoch wegen der Höhe seiner Einkünfte die besondere Sozialhilfe zur Bestreitung besonderer, individuell bestimmter notwendiger Kosten des Lebensunterhalts, einkommensabhängige Befreiungen von Abgaben nachgeordneter Gebietskörperschaften oder einkommensunterstützende Maßnahmen im Rahmen der gemeindlichen Politik für Einkommensschwache („minimabeleid“) in Anspruch nehmen kann.

 Zur zweiten Frage

53      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie, insbesondere Art. 2 Buchst. d, dahin auszulegen ist, dass diese Bestimmung einer nationalen Regelung entgegensteht, in der bei der Anwendung des Einkommenserfordernisses des Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie danach unterschieden wird, ob die familiären Bindungen vor oder nach der Einreise des Zusammenführenden in den Aufnahmemitgliedstaat entstanden sind.

 Erklärungen der Verfahrensbeteiligten

54      Frau Chakroun trägt vor, dass ihr Ehemann sofort nach seiner Einreise in die Niederlande im Jahr 1970 zwei Jahre lang dort gearbeitet habe, um das notwendige Geld für ihre Heirat zu verdienen.

55      Nach Auffassung der Klägerin des Ausgangsverfahrens und der Kommission bietet die Richtlinie keine Grundlage für eine Unterscheidung zwischen der Aufrechterhaltung einer Familie und deren Gründung. Es sei u. a. einem Dokument des Ratsvorsitzes (Ratsdokument 5682/01 vom 31. Januar 2001, S. 3) zu entnehmen, dass eine weitgehende Einigkeit darüber bestanden habe, dass die Familienzusammenführung sowohl die Bildung einer Familiengemeinschaft als auch deren Aufrechterhaltung erfassen solle. Diese Auslegung werde durch den sechsten Erwägungsgrund und Art. 2 Buchst. d der Richtlinie bestätigt. Bei der Ausnahmeregelung in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie handele es sich um eine Bestimmung, die speziell auf die Lage von Flüchtlingen zugeschnitten sei, die gezwungen seien, ihr Land zu verlassen. Frau Chakroun führt darüber hinaus den Bericht des Kommissars für Menschenrechte des Europarats vom 11. März 2009 anlässlich seines Besuchs in den Niederlanden vom 21. bis 25. September 2008 an, in dem dieser sich über einige Bestimmungen der niederländischen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Familienzusammenführung erstaunt zeige.

56      Die Kommission fragt sich außerdem, wie eine Unterscheidung nach dem Zeitpunkt der Entstehung der familiären Bindungen auch nur den geringsten Zusammenhang mit der Erfüllung der materiellen Voraussetzungen in Bezug auf die Grundbedürfnisse haben könne.

57      Die niederländische Regierung macht geltend, dass die in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehene Unterscheidung zwischen der Familiengründung und der Familienzusammenführung von der Richtlinie nicht untersagt werde und eine Möglichkeit darstelle, die Art und die Stärke der familiären Bindungen zu berücksichtigen, wie dies Art. 17 der Richtlinie vorgebe. Es sei nämlich denkbar, dass die auf dem Spiel stehenden Interessen gewichtiger seien, wenn die familiären Bindungen bereits bestanden hätten, bevor die Hauptperson in den Niederlanden ansässig geworden sei. Im Fall der Familiengründung gingen die beiden Partner das Risiko ein, dass sich ihr Familienleben zeitweilig nicht in den Niederlanden abspielen könne. Im Allgemeinen seien die familiären Bindungen in diesen Fällen weniger stark konkretisiert als in den Fällen, in denen es dann zu Anträgen auf Familienzusammenführung komme. Das Königreich der Niederlande habe gerade zum Schutz der Familie bei Anträgen auf Familienzusammenführung als ausreichendes Einkommensniveau einen niedrigeren Betrag festgesetzt als den allgemeinen Regelsatz von 120 % des Mindestlohns.

58      Vorsorglich weist die niederländische Regierung darauf hin, dass selbst dann, wenn die familiären Bindungen nach der Einreise der Hauptperson in die Niederlande entstanden seien und das Einkommenserfordernis nicht erfüllt sei, der Aufenthalt der Familienangehörigen dennoch genehmigt werde, wenn Art. 8 EMRK dies verlange.

 Antwort des Gerichtshofs

59      In Art. 2 Buchst. d der Richtlinie wird die Familienzusammenführung definiert, ohne dass nach dem Zeitpunkt der Eheschließung unterschieden würde, denn danach versteht man unter einer Familienzusammenführung die Einreise und den Aufenthalt eines Familienmitglieds im Aufnahmemitgliedstaat, mit dem Ziel, die Familiengemeinschaft aufrechtzuerhalten, „unabhängig davon, ob die familiären Bindungen vor oder nach der Einreise des Zusammenführenden entstanden sind“.

60      Nur der für Flüchtlinge geltende Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie sieht vor, dass die „Mitgliedstaaten … die Anwendung [der Bestimmungen des Kapitels V der Richtlinie] auf Flüchtlinge beschränken [können], deren familiäre Bindungen bereits vor ihrer Einreise bestanden haben“. Diese Bestimmung erklärt sich aus der günstigeren Behandlung, die Flüchtlingen bei ihrer Ankunft im Aufnahmemitgliedstaat gewährt wird.

61      Damit sind die Vorschriften der Richtlinie mit Ausnahme von Art. 9 Abs. 2 sowohl auf das anwendbar, was die niederländischen Rechtsvorschriften als Familienzusammenführung bezeichnen, als auch auf das, was danach als Familiengründung anzusehen ist.

62      Diese Auslegung wird durch den sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie bestätigt, in dem vom „Schutz der Familie und [der] Wahrung oder Herstellung des Familienlebens“ die Rede ist. Ebenfalls bestätigt wird sie durch die von der Klägerin des Ausgangsverfahrens angeführten Vorarbeiten, denen zu entnehmen ist, dass weitgehende Einigkeit darüber geherrscht hat, dass die Familienzusammenführung sowohl die Gründung einer Familie als auch die Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft erfassen sollte.

63      Diese Auslegung steht zudem mit Art. 8 EMRK und Art. 7 der Charta im Einklang, in denen nicht nach den Umständen und dem Zeitpunkt der Entstehung der Familie unterschieden wird.

64      In Anbetracht dieses vom Unionsgesetzgeber gewollten Fehlens einer Unterscheidung nach dem Zeitpunkt der Entstehung der Familie und unter Berücksichtigung der Notwendigkeit, die Bestimmungen der Richtlinie 2003/86 nicht eng auszulegen und nicht ihrer praktischen Wirksamkeit zu berauben, verfügten die Mitgliedstaaten nicht über einen Wertungsspielraum, der es ihnen erlaubt hätte, diese Unterscheidung in ihre nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie einzuführen (vgl. entsprechend Urteil vom 25. Juli 2008, Metock u. a., C‑127/08, Slg. 2008, I‑6241, Randnr. 93). Im Übrigen kann die Fähigkeit eines Zusammenführenden, für feste und regelmäßige Einkünfte zur Bestreitung seines Lebensunterhalts und desjenigen seiner Familie im Sinne des Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie zu sorgen, in keiner Weise von dem Zeitpunkt abhängen, zu dem er seine Familie gegründet hat.

65      Schließlich genügt zum Vorbringen der niederländischen Regierung, eine Genehmigung sei zu erteilen, wenn Art. 8 EMRK dies verlange, die Feststellung, dass Frau Chakroun, wie sich aus der mündlichen Verhandlung ergeben hat, noch immer nicht die Genehmigung erteilt worden ist, zu ihrem Mann zu ziehen, mit dem sie seit 37 Jahren verheiratet ist.

66      Daher ist auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass die Richtlinie, insbesondere Art. 2 Buchst. d, dahin auszulegen ist, dass diese Bestimmung einer nationalen Regelung entgegensteht, in der bei der Anwendung des Einkommenserfordernisses des Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie danach unterschieden wird, ob die familiären Bindungen vor oder nach der Einreise des Zusammenführenden in den Aufnahmemitgliedstaat entstanden sind.

 Kosten

67      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

1.      Die Wendung „Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen“ in Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung ist dahin auszulegen, dass sie einem Mitgliedstaat nicht erlaubt, eine Regelung für die Familienzusammenführung zu treffen, die dazu führt, dass die Familienzusammenführung einem Zusammenführenden nicht gestattet wird, der nachgewiesen hat, dass er über ausreichende feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, um die allgemein notwendigen Kosten des Lebensunterhalts für sich und seine Familienangehörigen zu bestreiten, jedoch wegen der Höhe seiner Einkünfte die besondere Sozialhilfe zur Bestreitung besonderer, individuell bestimmter notwendiger Kosten des Lebensunterhalts, einkommensabhängige Befreiungen von Abgaben nachgeordneter Gebietskörperschaften oder einkommensunterstützende Maßnahmen im Rahmen der gemeindlichen Politik für Einkommensschwache („minimabeleid“) in Anspruch nehmen kann.

2.      Die Richtlinie 2003/86, insbesondere Art. 2 Buchst. d, ist dahin auszulegen, dass diese Bestimmung einer nationalen Regelung entgegensteht, in der bei der Anwendung des Einkommenserfordernisses des Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie danach unterschieden wird, ob die familiären Bindungen vor oder nach der Einreise des Zusammenführenden in den Aufnahmemitgliedstaat entstanden sind.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Niederländisch.

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