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Document 61997CJ0086

Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 25. Februar 1999.
Reiner Woltmann gegen Hauptzollamt Potsdam.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Bundesfinanzhof - Deutschland.
Diebstahl von Waren - Zölle - Erlaß - Besonderer Fall.
Rechtssache C-86/97.

European Court Reports 1999 I-01041

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1999:95

61997J0086

Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 25. Februar 1999. - Reiner Woltmann gegen Hauptzollamt Potsdam. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Bundesfinanzhof - Deutschland. - Diebstahl von Waren - Zölle - Erlaß - Besonderer Fall. - Rechtssache C-86/97.

Sammlung der Rechtsprechung 1999 Seite I-01041


Leitsätze
Entscheidungsgründe
Kostenentscheidung
Tenor

Schlüsselwörter


Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften - Erstattung oder Erlaß von Eingangs- oder Ausfuhrabgaben - Vorliegen eines besonderen Falles im Sinne von Artikel 905 der Verordnung Nr. 2454/93, infolge dessen die nationalen Zollbehörden verpflichtet sind, die Angelegenheit der Kommission vorzulegen - Kriterien

(Verordnung Nr. 2913/92 des Rates, Artikel 239; Verordnung Nr. 2454/93 der Kommission, Artikel 900 Absatz 1 Buchstabe a und 905 Absatz 1)

Leitsätze


Auf "einen besonderen Fall ..., der sich aus Umständen ergibt, bei denen weder eine betrügerische Absicht noch eine offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten vorliegt", im Sinne von Artikel 905 Absatz 1 der Verordnung Nr. 2454/93 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung Nr. 2913/92 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften, der die Prüfung der Sache durch die Kommission erfordert, kann geschlossen werden, wenn im Lichte des an der Billigkeit ausgerichteten Regelungszwecks des Artikels 239 der Verordnung Nr. 2913/92 Umstände festgestellt werden, aufgrund deren sich der Antragsteller in einer Lage befinden kann, die gegenüber derjenigen anderer Wirtschaftsteilnehmer, die die gleiche Tätigkeit ausüben, aussergewöhnlich ist, und die Voraussetzungen des Artikels 900 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung Nr. 2454/93 für einen Erlaß von Zöllen zugunsten des Antragstellers nicht erfuellt sind.

Entscheidungsgründe


1 Der Bundesfinanzhof hat mit Beschluß vom 26. November 1996, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Februar 1997, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung von Artikel 905 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission vom 2. Juli 1993 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. L 253, S. 1; im folgenden: Durchführungsverordnung) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich im Rahmen einer Anfechtungsklage des Klägers Woltmann in Firma Trans-Ex-Import gegen eine Entscheidung des Hauptzollamts Potsdam über den Erlaß von Zoll und Einfuhrabgaben.

3 Artikel 239 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 249 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 vom 12. Oktober 1992 (ABl. L 302, S. 1; im folgenden: Zollkodex) ermächtigt die Kommission, Fälle des Erlasses und der Erstattung von Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben festzulegen. Dies ist in der Durchführungsverordnung geschehen.

4 Artikel 239 des Zollkodex lautet:

"(1) Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben können in anderen als den in den Artikeln 236, 237 und 238 genannten Fällen erstattet oder erlassen werden; diese Fälle

- werden nach dem Ausschußverfahren festgelegt;

- ergeben sich aus Umständen, die nicht auf betrügerische Absicht oder offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten zurückzuführen sind. Nach dem Ausschußverfahren wird festgelegt, in welchen Fällen diese Bestimmung angewandt werden kann und welche Verfahrensvorschriften dabei zu beachten sind. Die Erstattung oder der Erlaß kann von besonderen Voraussetzungen abhängig gemacht werden.

(2) Die Erstattung oder der Erlaß der Abgaben aus den in Absatz 1 genannten Gründen erfolgt auf Antrag; dieser ist innerhalb von zwölf Monaten nach der Mitteilung der Abgaben an den Zollschuldner bei der zuständigen Zollstelle zu stellen.

..."

5 Die in Artikel 239 des Zollkodex erwähnten Fälle werden durch Teil IV Titel IV Kapitel 3 der Durchführungsverordnung - Besondere Vorschriften zur Durchführung des Artikels 239 des Zollkodex - geregelt, das die Artikel 899 bis 909 umfasst.

6 Artikel 899 der Durchführungsverordnung lautet:

"Wenn die Entscheidungszollbehörde, bei der ein Antrag nach Artikel 239 Absatz 2 des Zollkodex gestellt worden ist, unbeschadet anderer Umstände, die im Rahmen des in Artikel 905 bis 909 vorgesehenen Verfahrens von Fall zu Fall zu beurteilen sind, feststellt,

- daß die für diesen Antrag vorgebrachten Gründe einen der in Artikel 900 bis 903 beschriebenen Tatbestände erfuellen und keine betrügerische Absicht oder offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten vorliegt, so erstattet oder erlässt sie die betreffenden Einfuhrabgaben.

Als $Beteiligter` gilt die Person im Sinne von Artikel 878 Absatz 1 sowie gegebenenfalls jede andere Person, die bei der Erledigung der Zollförmlichkeiten für die betreffenden Waren tätig geworden ist oder die die für die Erledigung dieser Förmlichkeiten erforderlichen Anweisungen gegeben hat;

- daß die für diesen Antrag vorgebrachten Gründe einen der in Artikel 904 beschriebenen Tatbestände erfuellen, so lehnt sie die Erstattung oder den Erlaß der Einfuhrabgaben ab."

7 Artikel 900 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung lautet:

"(1) Die Einfuhrabgaben werden erstattet oder erlassen, wenn

a) Nichtgemeinschaftswaren, die sich in einem Zollverfahren mit vollständiger oder teilweiser Befreiung von den Einfuhrabgaben befinden, sowie Waren, die aufgrund ihrer Verwendung zu besonderen Zwecken im Rahmen einer Abgabenbegünstigung in den zollrechtlich freien Verkehr übergeführt worden sind, gestohlen worden sind, sofern diese Waren kurzfristig wiedergefunden und in dem Zustand, in dem sie sich zum Zeitpunkt des Diebstahls befanden, wieder ihren ursprünglichen zollrechtlichen Status erhalten."

8 Artikel 905 der Durchführungsverordnung regelt, wie die Zollbehörde den Fall des Beteiligten, der keinem der in den Artikeln 900 bis 904 derselben Verordnung genannten Fälle entspricht, zu beurteilen hat. Absatz 1 dieses Artikels lautet:

"Ist die Entscheidungszollbehörde, bei der ein Antrag auf Erstattung oder Erlaß nach Artikel 239 Absatz 2 des Zollkodex gestellt worden ist, nicht in der Lage, nach Artikel 899 zu entscheiden, und lässt die Begründung des Antrags auf einen besonderen Fall schließen, der sich aus Umständen ergibt, bei denen weder eine betrügerische Absicht noch eine offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten vorliegt, so legt der Mitgliedstaat, zu dem diese Behörde gehört, den Fall der Kommission zur Behandlung nach dem Verfahren der Artikel 906 bis 909 vor.

Der Begriff $Beteiligte` ist in gleicher Weise wie in Artikel 899 auszulegen.

In allen anderen Fällen lehnt die Entscheidungszollbehörde den Antrag ab."

9 Aus dem dem Kläger bewilligten Zollager in den neuen Bundesländern wurden im Januar 1994 ca. 3,2 Mio. Stück überwiegend Dritten gehörende Zigaretten entwendet. Die Zollbehörden nahmen daraufhin den Kläger als Abgabenschuldner für Einfuhrabgaben auf die Zigaretten in Höhe von 485 703,99 DM - davon 58 206,87 DM Zoll - in Anspruch. Dem Kläger zufolge war das entwendete Zollagergut nicht versicherbar.

10 Die Klage gegen die Steuerfestsetzung wurde rechtskräftig abgewiesen.

11 Den Antrag des Klägers, ihm Zoll und Einfuhrabgaben aus Billigkeitsgründen zu erlassen, lehnte das Hauptzollamt ab. Die mit dem Begehren, den Erlassantrag gemäß dem Gemeinschaftszollrecht der Kommission vorzulegen, verbundene Anfechtungsklage hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht urteilte, die Regelungen des innerstaatlichen Rechts über Billigkeitserweise würden durch das Gemeinschaftsrecht vollständig verdrängt. Die in Artikel 905 Absatz 1 der Durchführungsverordnung geregelten Voraussetzungen für eine Vorlage an die Kommission seien nicht erfuellt, da kein "besonderer Fall" vorliege.

12 Der Kläger legte gegen diese Entscheidung Revision an den Bundesfinanzhof ein, nach dessen Ansicht bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits Vorschriften des Gemeinschaftsrechts auszulegen sind.

13 Der Bundesfinanzhof hat daher dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist Artikel 905 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung ... zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften - Zollkodex-Durchführungsverordnung - vom 2. Juli 1993 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften L 253, S. 1) dahin auszulegen, daß ein "besonderer Fall, der sich aus Umständen ergibt, bei denen weder eine betrügerische Absicht noch eine offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten vorliegt", von der Entscheidungszollbehörde nicht anzunehmen ist, wenn bei einem Diebstahl von Zollagergut (Nichtgemeinschaftswaren) die Voraussetzungen von Artikel 900 Absatz 1 Buchstabe a der Zollkodex-Durchführungsverordnung für einen Erlaß von Zoll zugunsten des Lagerinhabers nicht erfuellt sind?

2. Bei Bejahung von Frage 1:

Gilt dies auch in einem Härtefall, wenn das Risiko des Diebstahls (1.) nicht versicherbar gewesen ist und die Zollerhebung die wirtschaftliche Existenz des Lagerinhabers vernichten würde, oder kommt bei einem derartigen Sachverhalt die Beurteilung als "besonderer Fall ..." - Artikel 905 Absatz 1 der Zollkodex-Durchführungsverordnung -, der der Kommission zur Entscheidung vorzulegen wäre, in Betracht?

14 Aus den Akten des Ausgangsverfahrens ergibt sich, daß die Fragen des vorlegenden Gerichts, die gemeinsam zu prüfen sind, im wesentlichen dahin gehen, ob die nationale Zollbehörde einen besonderen Fall, der sich aus Umständen ergibt, bei denen weder eine betrügerische Absicht noch eine offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten vorliegt, verneinen kann, wenn nicht versicherbares Zollagergut gestohlen wurde und die Erhebung von Zoll auf dieses Lagergut den Konkurs des betroffenen Unternehmens zur Folge hätte.

15 Im Verfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag ist der Gerichtshof nicht befugt, die Normen des Gemeinschaftsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden; er ist nur befugt, dem innerstaatlichen Gericht die Kriterien für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts an die Hand zu geben, die diesem bei der Beurteilung der Wirkungen einer Bestimmung des nationalen Rechts dienlich sein könnten (vgl. insbesondere Urteile vom 15. Juli 1964 in der Rechtssache 100/63, Van der Veen, Slg. 1964, 1215, 1230, und vom 11. Juli 1985 in der Rechtssache 137/84, Mutsch, Slg. 1985, 2681, Randnr. 6).

16 Ist der Antrag auf Erstattung oder Erlaß von Abgaben auf Gründe gestützt, die einen der in den Artikeln 900 bis 903 beschriebenen Tatbestände erfuellen, und liegt keine betrügerische Absicht oder offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten vor, so ist die Zollbehörde verpflichtet, die betreffenden Einfuhrabgaben zu erstatten oder zu erlassen. Ist der Antrag dagegen auf Gründe gestützt, die einen der in Artikel 904 beschriebenen Tatbestände erfuellen, so ist die Zollbehörde verpflichtet, den Antrag abzulehnen.

17 Daraus folgt, daß das Verfahren der Artikel 905 bis 909 der Durchführungsverordnung immer dann anzuwenden ist, wenn die nationale Zollbehörde nicht in der Lage ist, nach den Artikeln 899 bis 904 der Durchführungsverordnung Zölle zu erlassen oder deren Erlaß abzulehnen.

18 Aus der Systematik von Teil IV Titel IV Kapitel 3 der Durchführungsverordnung ergibt sich nämlich, daß Artikel 905 in das Gemeinschaftszollrecht eine allgemeine Billigkeitsklausel für aussergewöhnliche Fälle einführt, die als solche unter keinen der in den Artikeln 900 bis 904 dieser Verordnung beschriebenen Tatbestände fallen.

19 Ist die Zollbehörde angesichts der vorgebrachten Gründe nicht in der Lage, nach Artikel 899 der Durchführungsverordnung über den Erlaß von Abgaben zu entscheiden, so hat sie also zu prüfen, ob die Begründung auf einen besonderen Fall im Sinne von Artikel 905 Absatz 1 der Durchführungsverordnung schließen lässt, bei dem weder eine betrügerische Absicht noch eine offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten vorliegt, und die Sache gegebenenfalls der Kommission vorzulegen, die anhand der übermittelten Angaben beurteilt, ob ein den Erlaß der Abgaben rechtfertigender besonderer Fall vorliegt.

20 Hingegen hat die nationale Behörde nicht festzustellen, ob der in Rede stehende Fall einen besonderen Fall im Sinne von Artikel 905 Absatz 1 der Verordnung darstellt, der einen Erlaß von Abgaben durch die Kommission rechtfertigt.

21 Die Zollbehörde hat ihre Prüfung im Lichte des an der Billigkeit ausgerichteten Regelungszwecks des Artikels 239 des Zollkodex darauf zu beschränken, ob sich der Antragsteller aufgrund der vorgebrachten Umstände in einer Lage befinden kann, die gegenüber derjenigen anderer Wirtschaftsteilnehmer, die die gleiche Tätigkeit ausüben, aussergewöhnlich ist.

22 Nach alledem ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, daß auf "einen besonderen Fall ..., der sich aus Umständen ergibt, bei denen weder eine betrügerische Absicht noch eine offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten vorliegt", im Sinne von Artikel 905 Absatz 1 der Durchführungsverordnung, der die Prüfung der Sache durch die Kommission erfordert, geschlossen werden kann, wenn im Lichte des an der Billigkeit ausgerichteten Regelungszwecks des Artikels 239 des Zollkodex Umstände festgestellt werden, aufgrund deren sich der Antragsteller in einer Lage befinden kann, die gegenüber derjenigen anderer Wirtschaftsteilnehmer, die die gleiche Tätigkeit ausüben, aussergewöhnlich ist, und die Voraussetzungen des Artikels 900 Absatz 1 Buchstabe a der Durchführungsverordnung für einen Erlaß von Zöllen zugunsten des Antragstellers nicht erfuellt sind.

Kostenentscheidung


Kosten

23 Die Auslagen der französischen und der italienischen Regierung sowie der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor


Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Sechste Kammer)

auf die ihm vom Bundesfinanzhof mit Beschluß vom 26. November 1996 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Auf "einen besonderen Fall ..., der sich aus Umständen ergibt, bei denen weder eine betrügerische Absicht noch eine offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten vorliegt", im Sinne von Artikel 905 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission vom 2. Juli 1993 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften, der die Prüfung der Sache durch die Kommission der Europäischen Gemeinschaften erfordert, kann geschlossen werden, wenn im Lichte des an der Billigkeit ausgerichteten Regelungszwecks des Artikels 239 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 vom 12. Oktober 1992 Umstände festgestellt werden, aufgrund deren sich der Antragsteller in einer Lage befinden kann, die gegenüber derjenigen anderer Wirtschaftsteilnehmer, die die gleiche Tätigkeit ausüben, aussergewöhnlich ist, und die Voraussetzungen des Artikels 900 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung Nr. 2454/93 für einen Erlaß von Zöllen zugunsten des Antragstellers nicht erfuellt sind.

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